„Theater kann viel mehr sein“

Florian Malzacher, Christine Peters, Aenne Quiñones, Kathrin Tiedemann und Alexander Wewerka im Gespräch mit Eva Behrendt über postdramatisches Theater

In: Postdramatisches Theater in Portraits. Hg. Eva Behrendt. Berlin: Alexander Verlag, 2019. 6-37.


Eva Behrendt: Vor zwanzig Jahren erschien mit Hans-Thies Lehmanns „Postdramatischem Theater“ erstmals ein Überblickswerk, das versuchte, Theaterformen, die über das Spektrum des traditionellen Theaterverständnisses hinausragten, zu benennen und zu kategorisieren. Was systematisch gar nicht so einfach war, wie man an den zahllosen Kapiteln und Unterkapiteln im Inhaltsverzeichnis sieht. Jetzt wird der Alexander Verlag gemeinsam mit der Kunststiftung NRW und Euch als Herausgeber*innen eine Reihe von mindestens zwölf Monografien über postdramatische Künstler*innen und Theatergruppen publizieren. Was zeichnet diese aktuellen Vertreter*innen eines postdramatischen Theaters gemeinsam aus?

Kathrin Tiedemann: Bei einem Vortrag, den der Theaterwissenschaftler Jan Lazardzig im Rahmen der Konferenz „Really Useful Theater“ vor ein paar Jahren in den Berliner Sophiensælen über „Schillers Polizei“ gehalten hat, ist mir klar geworden, dass die deutschsprachige Theatergeschichte der letzten 200 Jahre auch eine Disziplinierungsgeschichte ist. Um 1800 wurde das bürgerliche Theater im Sinne der „moralischen Anstalt“ zu einem Apparat, mit dem man die triebhafte Natur des Publikums domestizieren wollte. Für mich ist das geradezu eine Urszene der Literarisierung des Theaters, in der die Autoren die Autonomie des Textes gegen die unkontrollierten Affekte des Publikums verteidigen: „Der Text ist das Kunstwerk!“ Diese Verbindung von Bildung und Bühnenkunst hat sich im Folgenden neben all dem fahrenden Volk, dem Straßentheater und Tingeltangel, das es natürlich auch gab, durchgesetzt. Es ist spannend zu sehen, wie sich das Theater in dieser Tradition auch in jüngerer Zeit zunächst über den Text erneuert, etwa durch die Dramatik von Heiner Müller oder Elfriede Jelinek. Wobei Text und Bühnenkunst hier vielleicht gar nicht voneinander getrennt gedacht werden können. Das performative, „postdramatische“ Theater, so würde ich es verstehen, folgt also nicht unbedingt historisch auf das „dramatische“, sondern enthält im Kern einen Gegenentwurf zum Autonomiegedanken, indem es eine Fülle von Theaterformen entwickelt, die nach neuartigen, wenn man so will, nicht-disziplinierenden Beziehungen zwischen Bühne und Publikum suchen.

Aenne Quiñones: Das postdramatische Theater ist kein Sonderweg, sondern eine eigenständige Kunstrichtung, verbunden mit einer spezifischen Praxis. Während das herkömmliche Theater traditionell ein bestehendes Werk und dessen Interpretation durch eine Regisseur*in in den Mittelpunkt rückt, geht es hier generell um ein anderes Verständnis von Autorschaft. Künstlerische Strategien stehen immer wieder neu zur Disposition. Nicht nur, was die Arbeitsweisen der beteiligten Künstler*innen selbst betrifft, sondern auch bezüglich des Materials, das sie gemeinsam entwickeln.

Behrendt: Der Geheimrat Goethe und der Arzt Schiller wiederum haben sich nicht ausschließlich als Theaterautoren begriffen, ihr Selbstverständnis als Künstler war durchaus universeller. Ist das postdramatische Theater antibürgerlich?   Quiñones: So gesehen könnte auch das postdramatische Theater an Theatergeschichte anknüpfen. Etwa an den antiken Chor: Euripides beispielsweise wurde nicht als Autor oder gar Regisseur bezeichnet, sondern als der, der den Chor einstudiert. Der Text war also ganz selbstverständlich Teil einer Praxis. Oder Shakespeare, was war das Globe Theatre für ein Theaterraum? Wie ist man sich darin begegnet, hat man das Publikum einbezogen? Das sind von Anfang an auch wesentliche Fragen für das postdramatische Theater.

Christine Peters: Für unser Anliegen und unsere Buchreihe ist der Begriff „postdramatisches Theater“ ein denkbar gutes Gefäß, um disparate Strömungen und Felder mit teils fließenden Grenzen zu bündeln: Das postdramatische Theater rekurriert auf epochale ästhetische wie gesellschaftspolitische Veränderungen, historische Revisionen wie Werte-Umbrüche durch formale Korrektive und widerständige Narrative, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Aenne erwähnt das Chorische: Einar Schleef hatte es als Erzähltechnik für das Theater neu vermessen, die Idee vom Text als Steinbruch bei Heiner Müller war wegweisend und der Materialbegriff, die kollektive Spielweise sowie die Offenlegung der Theatermaschine bei der Wooster Group radikal erneuernd. Das alles sind ästhetische Praktiken, die sich hier wiederfinden, und natürlich gibt es auch im postdramatischen Theater Autoren wie René Pollesch, die ihre eigenen Texte inszenieren.

Florian Malzacher: Um noch mal auf die Zwischenfrage nach der Bürgerlichkeit zurückzukommen: Ich glaube nicht, dass das postdramatische Theater weniger bürgerlich ist als das Stadttheater. Aber unabhängig davon finde ich den Begriff des postdramatischen Theaters erstmal gut, weil er, so problematisch er auch sein mag, sehr griffig ist und weil er sich international durchgesetzt hat. Man kann ihn kritisieren, jeder definiert ihn auf seine Weise, und oft hat das nicht mehr viel mit Hans-Thies Lehmann zu tun. Weil er Allgemeingut geworden ist, hält er viel aus. Ich sehe das pragmatisch. Aber ich mag auch den englischen Begriff des „devised theatre“, also des immer neu entwickelten Theaters, ganz gern. Weil er nahelegt, dass man immer bei Null beginnen könnte, jede Arbeit erst einmal eine ganz andere Richtung gehen könnte, an einem ganz anderen Punkt ansetzen könnte – beim Licht beispielsweise, bei den Performer*innen, bei einem Text, bei dem Tisch, an dem wir gerade sitzen. Darin steckt die Möglichkeit eines Theaters, das viel mehr sein kann als die Aufführung kanonischer oder noch zu kanonisierender Texte an dafür vorgesehenen Orten. Bei wirklich interessanten Arbeiten ist es ja oft genauso, dass man erst einmal verstehen muss: Was sind die Spielregeln, die da vorgeschlagen werden? Wie werden sie umgesetzt? Und dann erst: Wie finde ich das? Es nützt ja nichts, ein Fußballspiel zu erwarten, wenn die dort mit Schlägern einen Ball über ein Netz schlagen.

Behrendt: Wäre das eine Definition des postdramatischen Theaters: Spiele, die ihre eigenen, neuen Regeln entwickeln und das Publikum dazu auffordern, diese Regeln zu begreifen?

Malzacher: Als ich das erste Mal Forced Entertainment oder Jahre später das Nature Theater of Oklahoma gesehen habe, dachte ich: Was ist denn hier los? So etwas hatte ich noch nie gesehen. In solchen Momenten wird das Theater grundlegend in Frage gestellt. Zwischendurch hatten wir überlegt, diese Reihe einfach nur „Theater“ zu nennen. Denn darum geht es uns: Zu zeigen, dass Theater viel mehr ist als der Strang, der in den letzten gut 200 Jahren an den Schauspielhäusern dominant gewesen ist und die alleinige Deutungshoheit beansprucht.

Tiedemann: In den 1990er Jahren hat sich im Theater der Bezug zur Realität verändert. Ich weiß noch, dass ich damals etwa in der Berliner Schaubühne das Gefühl hatte – und nicht nur mir ging es so –, dass dieses Theater nichts mehr mit meiner Lebenswelt zu tun hatte. Das veränderte sich, unter anderem durch die vielen Quereinsteiger ins Theater damals, aus der Musik, Bildenden Kunst, Popkultur im weitesten Sinne. Christoph Schlingensief war beispielsweise jemand, der ganz stark mit der Theatralisierung von Politik gespielt hat. Der Diskurs darüber war damals neu! Wir haben beim Freitag, wo ich Redakteurin war, eine richtige Debatte darüber geführt – heute würde man das wahrscheinlich belächeln, weil wir schon wieder ein paar Stufen weiter sind, wenn man beispielsweise daran denkt, welche Kreise das Video des YouTubers Rezo, „Die Zerstörung der CDU“, im Vorfeld der Europawahlen zog. Das Performative war und ist interessant, um sich in ein politisches Verhältnis zur Realität zu setzen.

Quiñones: Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hat das Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft. Andrzej Wirths revolutionärer Ansatz, Theorie und Praxis zu verbinden, der dann u. a. von Hans-Thies Lehmann weiterentwickelt wurde, hat nicht Schauspieler*innen, Dramatiker*innen und Regisseur*innen hervorgebracht, sondern zeitgenössisch denkende Theaterkünstler*innen. Gießen konnte noch so sehr als „Unglücksschmiede des deutschen Theaters“ verunglimpft werden, es hat sich gezeigt, dass dieses uneingeschränkte Zulassen und geradezu Herausfordern von Kreativität ein äußerst produktiver Ansatz war.

Behrendt: Es war jetzt schon mehrfach von den 90er Jahren die Rede, die offenbar eine Art Aufbruchs- und Gründerphase des postdramatischen Theaters waren. Welche Rolle hat dabei als äußeres Ereignis der Mauerfall gespielt? War der Zusammenbruch der Sowjetunion und damit der scheinbaren Alternative zum Kapitalismus ein Katalysator für diese Art von Theaterkunst?

Malzacher: Nicht unbedingt. In Jugoslawien beispielsweise gab es schon vor 1989 Festivals, die genau in diese Richtung gingen, wie Eurokaz in Zagreb oder Bitef in Belgrad.

Tiedemann: Aus Berliner Perspektive sah es auf jeden Fall so aus, als hätte dieser Umbruch diese Entwicklung zumindest stark beschleunigt. Das hing auch ganz konkret mit den vielen neuen Räumen zusammen, die sich eröffneten, mit der Übergangszeit, in der kultur- und stadtpolitisch noch nicht alles neu definiert war. Es gab damals Gruppen, die heute keiner mehr kennt, die im Punk wurzelten, die Straßentheater und Spektakel mit „Feuer und Schrott“ etwa auf dem ehemaligen Mauerstreifen zeigten. Das waren große Kollektive, die mit Kindern und Hunden zusammenlebten, in der ehemaligen Westberliner Subkultur wurzelten und jetzt das kulturpolitische Durcheinander nutzten, um eigene Räume zu gestalten und künstlerisch zu nutzen, Orte wie das Tacheles beispielsweise, später dann die Sophiensæle. Meiner Ansicht nach haben auch sie ihren Anteil an der Entwicklung des „anderen“ Theaters.

Quiñones: Oder das Podewil, in den 90er Jahren „Zentrum für aktuelle Künste“ und damals ein nahezu „marktfreier Raum“, der als interdisziplinärer Ort viele spannende neue Entwicklungen ermöglicht hat. Von hier aus starteten Gruppen wie She She Pop oder Showcase Beat Le Mot ihre internationale Laufbahn.

Malzacher: Da sieht man aber auch wieder, aus welch unterschiedlichen Quellen sich das Postdramatische speist. Von Gießen aus betrachtet, war die Mauer jedenfalls sehr weit weg, Holland und Belgien viel näher dran.

Alexander Wewerka: Ab Mitte der 80er Jahre gab es bereits in Frankfurt am Main Tom Strombergs TAT, ab 1989 das Hebbel-Theater in Berlin unter Nele Hertling, und, ebenfalls in Frankfurt, wurde das Künstlerhaus Mousonturm von Dieter Buroch gegründet. Damit begann die Institutionalisierung eines internationalen Austauschs, zum Teil auch in Koproduktionsmodellen. Diese Art von „freiem“ Theater war neu. Auch neue Ensembles tauchten auf, wie die Wooster Group, die Socìetas Raffaello Sanzio, Jan Lauwers Needcompany etc. Und es gab natürlich schon Ariane Mnouchkine, Peter Brook und Tadeusz Kantor – aber nichts wirklich Vergleichbares in Deutschland. Mit Ausnahme vielleicht von Roberto Ciulli, der 1980/81 sein eigenes Theater an der Ruhr gegründet und den schönen Satz geprägt hat: „Das Theater ist keine Filiale der Literatur“.
Ich glaube auch, dass der Mauerfall sehr wichtig war, und erinnere mich noch gut an meinen ersten Castorf, „Die Räuber“ – so eine Art Theater hatte ich bis dahin noch nicht gesehen. Das war ganz neu oder anders und gleichzeitig deutlich von Brecht inspiriert – Brechts Name fiel kürzlich auch sehr oft auf der Pressekonferenz, in der René Pollesch als neuer Intendant der Berliner Volksbühne vorgestellt wurde.

Malzacher: Aus Gießener Sicht war Frank Castorf zwar auch ein Referenzpunkt, aber irgendwie war das auch schon zu etabliert. Bereits Ende der 90er hatte jemand „Stoppt den Castorf!“ auf eine Mauer gegenüber des Instituts gesprayt.

Wewerka: Auf der anderen Seite das amerikanische Theater der 70er Jahre, von dem Andrzej Wirth auch stark beeinflusst war.

Tiedemann: Das amerikanische Theater der 60er und 70er Jahre wurde nicht zuletzt von deutschen Exilant*innen geprägt. Judith Malina vom „Living Theatre“ beispielsweise war Schülerin von Piscator.

Wewerka: Heiner Müller bereiste in den 70ern die USA …

Malzacher: Um noch mal auf das „Freie Theater“ zurückzukommen: Es gibt darin, sehr pauschalisiert und für den deutschsprachigen Raum gesprochen, zwei Strömungen. Zum einen die Leute, die in den 70er und 80er Jahren das Stadt- und Staatstheater verlassen haben, und zwar großenteils, weil sie mit den Strukturen und Hierarchien nicht einverstanden waren, weniger aus ästhetischen Differenzen. Viele von ihnen haben eigene Häuser und Ensembles gegründet. Die zweite Strömung des Freien Theaters formierte sich hingegen aus Leuten, die gar nie ein Stadttheater betreten haben, also beispielsweise aus Gießen-Absolvent*innen oder Quereinsteiger*innen oder Leuten, die aus anderen Theaterkulturen nach Deutschland kamen. Da kreiste der Konflikt eher um Fragen der Repräsentation und Theaterästhetik. Zwischen diesen beiden Szenen gibt es überraschend wenige Überlappungen, und sie beziehen sich auch ästhetisch auf ganz unterschiedliche Vorbilder.

Peters: Vielleicht sollten wir auch über den Begriff der Autorität sprechen: das Hinterfragen von Autoritäten hinsichtlich Form, Ästhetik und Struktur. Wichtige Impulse kamen u. a. aus dem internationalen Theater und der Theorie. René Pollesch bezog sich formalästhetisch u. a. auf den US-amerikanischen Künstler John Jesurun und theoretisch auf die französischen Poststrukturalisten, wobei er deren Autoritäten durch seine literarischen Verfahren der Montage gleich wieder dekonstruierte. Ein anderes Referenzsystem wäre Punk …

Malzacher: … und der konzeptuelle Tanz in den 90er Jahren …

Peters: … ganz wichtig. Anne Teresa De Keersmaeker, oder William Forsythe, seine Methode etwa, den Bühnenapparat zu enthierarchisieren. Jemand wie Stefan Kaegi, damals noch als „Hygiene heute“ unterwegs, später Rimini Protokoll, hat mit seiner ästhetischen Prägung ganz andere Erfahrungen mitgebracht. Etwa den erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys, die Idee des lebendigen Archivs bei Aby Warburg und Alexander Kluge, die Audiowalks von Janet Cardiff und George Bures Miller – hier kamen andere künstlerische Disziplinen und Arbeitsauffassungen ins Spiel, auch die Experten des Alltags gehen auf jene Referenzen zurück. Das sind ganz wesentliche Imprägnierungen. Zu ergänzen wäre noch als Referenz das weite Feld der Pop-Kultur, die Videoclipästhetik damals auf MTV, das Sampling in der Musik, oder subversive Zitierweisen, wie etwa bei Quentin Tarantino – all das war ja ebenfalls prägend für die 90er Jahre und die Entgrenzung bzw. Emanzipation des Theaters.  Behrendt: Letzteres wirkte damals unter dem Label „Poptheater“ ja sogar ins Stadttheater, bei Falk Richter, Christina Paulhofer oder Nicolas Stemann …

Quiñones: Für mich ist es ein ganz wesentlicher Unterschied, ob ein Kollektiv wie etwa Gob Squad Elemente der Popkultur als gleichwertiges Mittel in den künstlerischen Prozess einfließen lässt, oder ob ich ein Theaterstück sehe, das – für einen aktuelleren Zugriff vielleicht – beispielsweise mit Popmusik illustriert wird. Der Unterschied wird genau an dem Punkt klar, wo Leute, die mit dem herkömmlichen Theater schon abgeschlossen hatten, im „anderen“ Theater völlig überrascht feststellen: „Oh, das hat ja etwas mit mir zu tun!“

Malzacher: Es war sicher kein Zufall, dass der Name She She Pop klanglich an ZZ Top erinnert oder auch Showcase wie eine Band klingt. Das Modell der Band hat für viele Gruppen der 90er Jahre als Arbeits- und Auftrittsform eine wichtige Rolle gespielt.

Quiñones: … Forced Entertainment war ähnlich wichtig. Wir haben Forced Entertainment und andere britische Performer*innen und Gruppen in den 90er Jahren unter dem kulturpolitischen Begriff „Live Art“ gelabelt. Auch kein ganz einfacher Begriff, aber erstmal benutzbar, um etwas Neues sichtbar zu machen. Die Gruppe war auch deshalb für die Gießener Kollektive so wichtig, weil sie ihr künstlerisches Selbstverständnis nicht in einer literarischen Theatertradition, sondern unter Einsatz von Bildender Kunst, Konzepten der Performance-Art, Musik, Film und Pop-Kultur entwickelten. Alles dient als Material. In diesem Sinne ist beispielsweise auch „die eigene Biografie nur Methode und kein Ausdruck von Authentizität“, wie She She Pop mal gesagt haben.

Malzacher: Ich finde den Begriff „Live Art“ gar nicht so uninteressant. Es gibt diese Kochbücher, in denen man sieht, dass eine Kuh in verschiedenen Ländern unterschiedlich zerteilt wird; einen Tafelspitz etwa gibt’s nur in der österreichischen Küche. Was Live Art als Begriff gebracht hat, war, dass auf einmal Tim Etchells und Franko B’s Body Art in einem Programm nebeneinander gezeigt wurden. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass das etwas miteinander zu tun haben könnte. Manchmal können Kategorien und Begriffe auch die befreiende Wirkung haben, Zusammenhänge neu zu denken.

Tiedemann: Man kann diese Entwicklung auch nicht ohne das Publikum der 90er Jahre denken. Zu Beginn mag es noch vorgekommen sein, dass man vor wenig Publikum spielte, aber wenn ich an das Festival „reich & berühmt“ im Berliner Podewil denke, da haben uns die Leute die Bude eingerannt: eine spezielle, wahrscheinlich nur im großstädtischen Raum denkbare Mischung aus jungen Leuten und Kreativen. Die Bücher von Diedrich Diederichsen waren wahnsinnig wichtig, die Verbindung von Leben und Arbeit, die Entgrenzung beider Bereiche. Das floss zurück in die Kunst. Dabei merkte man schon in den 90er Jahren, dass da nichts mehr zu entgrenzen ist. Das war damals schon bei vielen Thema, nicht nur bei Pollesch. Das Platzen der Dotcom-Blase hat das noch zusätzlich befeuert.

Wewerka: Es gibt auch eine Kritik an euren Produktionsweisen, und das ist der Vorwurf des Neoliberalismus. Keine festen Verträge mehr, Schluss mit einem festen Ensemble, ein Engagement für ein Projekt und dann wieder weg …

Malzacher: … die originelle Kritik, die denen, die prekär leben, die Schuld für ihre Prekarität in die Schuhe schiebt.

Tiedemann: Die Gruppen sind ja ihre eigenen Ensembles, und das teilweise seit über 20 Jahren. Sie arbeiten also mit hoher Kontinuität und Verlässlichkeit zusammen – weil sie sich eigene Strukturen aufgebaut haben, oftmals auf der Basis sehr bescheidener öffentlicher Förderungen.

Quiñones: Manche haben sogar ihr eigenes solidarisches Sozialsystem erfunden und auch erfinden müssen, beispielsweise um Theater und Familie überhaupt miteinander vereinbaren zu können. Bei einigen sind die Produktionen von vornherein so strukturiert, dass nie die gesamte Gruppe touren muss, sondern alle Positionen auswechselbar bleiben. Zugespitzt formuliert, jeder ist ersetzbar – als ein Kennzeichen dafür, die klassischen Rollenverteilungen über Bord zu werfen.

Behrendt: Wir haben jetzt über sehr unterschiedliche Wurzeln und Vorbilder des postdramatischen Theaters gesprochen. Vielleicht kommen wir nicht darum herum, auch noch mal über das Theater zu reden, das immer noch mehrheitlich am deutschen Stadt- und Staatstheatersystem zu sehen ist, das weltweit nach wie vor als einzigartig, weil auch am besten finanziert gilt. Denn das scheint mir eine wesentliche Gemeinsamkeit auf dem weiten Feld des Postdramatischen zu sein: Dass sie sich Strukturen außerhalb dieses hierarchischen und strikt arbeitsteiligen Systems geschaffen haben.

Quiñones: Ich kenne sowohl Stadttheater- als auch freie Produktionshausstrukturen aus der Innenperspektive. Am Stadttheater entstehen Programme, indem sich Dramaturgien etwas ausdenken, Künstler*innen werden Stoffe vorgeschlagen – anstatt den umgekehrten Weg zu gehen und zu schauen, welche künstlerischen Sprachen es gibt und wie sich die damit verbundenen Produktionsweisen mit der Institution verbinden lassen. Dieser zweite Weg ist immer noch relativ jung und bei aller Professionalisierung fragil und häufig prekär – dass man das der Freien Szene anlastet, finde ich auch ein bisschen zu einfach, aber das funktioniert natürlich auch als Abwehrmechanismus. Zwischendurch gab es, etwa in den Nullerjahren, die Idee, dass die Grenzen zwischen Stadttheater und frei produzierenden Gruppen fließend wären. Meiner Meinung nach war das ein Missverständnis. Mittlerweile haben die Produktionshäuser, wie etwa das FFT Düsseldorf, Kampnagel Hamburg oder das HAU Hebbel am Ufer in Berlin eine andere, eigenständige Arbeitspraxis entwickelt, die letztlich nicht mit der Praxis der Stadttheater zusammengeht. Dass es da bei dem einen oder anderen Projekt auch mal eine Ausnahme gibt, ist doch wunderbar, bestätigt aber eher die Regel.

Behrendt: Noch einmal zurück zu Hans-Thies Lehmann. In seinem „Postdramatischen Theater“ tauchten jede Menge Namen auf, darunter bereits Gob Squad und René Pollesch, von denen damals viele im Feuilleton und in den deutschen Stadttheatern noch als Geheimwissen galten. Hat sich der Status, hat sich die Sichtbarkeit postdramatischer Künstler*innen und Gruppen nicht grundlegend verändert? Und geht das nicht sogar so weit, dass sowohl ästhetisch als auch strukturell das postdramatische Theater längst eine Art Vorbild oder Avantgarde für das Stadttheater geworden ist, angefangen von den Versuchen des Ensemble-Netzwerks, die Arbeitsbedingungen und Mitsprachemöglichkeiten für Ensembleschauspieler*innen zu verbessern …

Quiñones: … es ist ja wohl auch das Mindeste, als Künstler*innen und nicht als Dienstleister*innen gesehen zu werden!

Behrendt: … bis hin zu ästhetischen Entwicklungen, bei denen sich eben auch eine Verschiebung abzeichnet vom literarischen Text und seiner psychologisch-realistischen Darstellung zu einer Theaterkunst, die offener ist für gleichrangige Einflüsse anderer Künste und diese nicht nur zur Illustration einer dramatischen Handlung benutzt? Dazu gehört auch, dass es heute mehr Stückentwicklungen gibt und deutlich weniger kanonische Texte inszeniert werden als noch vor zehn oder gar zwanzig Jahren. Könnte es sein, dass die Stadttheater durchaus registriert haben, dass die freien Ensembles und Performer*innen eine grundlegende und für Produzent*innen wie Publikum äußerst attraktive Alternative zu ihrer Kunst und ihrer Produktionsweise geschaffen haben?

Malzacher: Natürlich gibt es Einflüsse, aber es wäre auch albern zu behaupten, alle Neuerungen im Stadttheater der letzten 15 Jahre gingen auf die Freie Szene zurück. Eine Künstlerin wie Susanne Kennedy, die schon früh am Stadttheater inszeniert hat, ist beispielsweise mindestens genauso stark beeinflusst von Bildender Kunst, von Post-Internet-Art. Das postdramatische Theater ist sicher keine Lösung für alle Probleme, es bietet aber einen anderen, sehr eigenen Zugriff auf das Theater. Ich glaube einfach: Es tut beiden Seiten nicht unbedingt gut sich anzugleichen. Selbst das reformierteste Stadttheater sollte und wird vermutlich eine andere Aufgabe haben als eine freie Gruppe oder wiederum ein internationales Produktionshaus, das versucht, solchen Gruppen möglichst optimale Arbeitsbedingungen zu bieten. Es sind einfach verschiedene Systeme.

Tiedemann: Das Theater entwickelt sich weiter. Es wird eine neue Generation erkennbar, die noch stärker von der digitalen Kultur geprägt ist, die neue Formen von Autorschaft entwickelt und für ihre Inszenierungen vermutlich auch neue Räume brauchen wird. Ich bin ebenfalls davon überzeugt, dass es sinnvoll ist, Institutionen von der Kunst her zu denken, von den sich wandelnden Bedürfnissen der Künstler*innen – und nicht umgekehrt zu versuchen, die Künstler*innen der Institution, ihren Hierarchien, ihrer Arbeitsteiligkeit, ihrer Architektur etc. anzupassen. Sogar die Produktionshäuser, die zum großen Teil in den 80er, 90er Jahren entstanden sind, oft auch als Monumente der Deindustrialisierung in ehemaligen Industriebauten, stoßen da mitunter an ihre Grenzen.

Behrendt: Das bedeutet aber auch, dass die Institutionen flexibel bleiben – oder, im Fall des Stadttheaters, flexibel gemacht werden müssten. Wann ist eigentlich das letzte neue Produktionshaus gebaut worden?

Tiedemann: Das war vermutlich das Wiener Tanzquartier. Und wir am FFT Düsseldorf erhalten demnächst neue Räume in einem ehemaligen Post-Logistik-Gebäude.

Malzacher: Man darf auch die freien Produktionshäuser nicht idealisieren; sie sind genauso Teil der Lösung wie des Problems. Weil sie zwar andere, aber ja dennoch auch beständige Strukturen etabliert haben. Deshalb stehen bei jungen Künstler*innen auch Produktionshäuser wieder in der Kritik, gibt es Vorschläge, wie man sie anders denken kann. Wenn man es ernst damit meint, dass für jedes Projekt immer wieder bei Null angefangen werden kann, wird es nie eine dauerhaft befriedigende Lösung geben können. Ich bin durchaus ein Fan von Institutionen, gerade in einer Zeit, in der Institutionen so gefährdet sind. Aber sie definieren eben auch Strukturen und produzieren so eine bestimmte Kunst – zum Beispiel postdramatisches Theater.

Quiñones: Klar, auch die internationalen Produktionshäuser sind Institutionen mit der Tendenz, bestimmte Dinge zu verstetigen. Das kann man aber auch positiv betrachten. Wir haben im HAU beispielsweise, auch um weiteres Publikum zu erreichen, damit begonnen, ein Repertoire zu etablieren, d. h. Künstler*innen und Publikum die Möglichkeit zu geben, bestimmte Aufführungen immer wieder zu spielen und zu sehen. Das hat sich sehr bewährt. Vor zwanzig Jahren wäre das kaum denkbar gewesen. Aber auch da glaube ich, dass die Grundlage immer sein muss, sich selbst zu hinterfragen mit der Bereitschaft, die Strukturen immer wieder neu zu denken.

Tiedemann: Wenn ich mir Gedanken mache über den neuen Raum, den wir da zukünftig bespielen sollen, dann spielen Stadtgesellschaft und Re-Demokratisierung eine wichtige Rolle. Wie können die Erfahrungen, die wir mit laborartigen Installationen auf öffentlichen Plätzen und Interventionen im Stadtraum mit Künstler*innen wie Gintersdorfer/Klaßen oder Claudia Bosse und dem theatercombinat gesammelt haben, in den Entwurf eines zukünftigen Theaters einfließen? Ich frage mich, ob wir mit dem Begriff Theater nicht auch sehr viele Möglichkeiten ausschließen – so wie das Theater im Laufe seiner Geschichte auch sehr viele Menschen ausgeschlossen hat.

Peters: In Bezug auf die Institutionen sind die Schlüssel für mich immer die Künstler*innen geblieben. Der Ruf nach Freiräumen für künstlerische Forschung z. B. kam eben aus dem Widerstand gegen die Produktionslogiken und Standardisierungen, wie sie an vielen Institutionen lange Zeit üblich waren und die heute in anderer Form auftreten. In den 90er Jahren kam Institutionskritik von Choreograf*innen wie Thomas Plischke, Xavier Le Roy oder Meg Stuart, die Freiräume für Experimente forderten. Die wollten nicht mehr in Sparten denken und arbeiten, hinterfragten bestehende Strukturen und appellierten an die Risikobereitschaft ihrer Produzent*innen: Wie ist das, wenn am Ende eines Recherche- und Probenprozesses kein Bühnenstück, sondern eine Situation, ein Buch, eine Installation, ein Gespräch oder ein Film herauskommt? Oder auch erstmal gar nichts, was veröffentlicht werden will? Fragen wie diese sind auch heute noch virulent.

Malzacher: Es ist jedenfalls auffällig, dass es Institutionenkritik, die ja in der Bildenden Kunst ein Top-Genre ist, im Theater relativ wenig gibt.  Behrendt: Um noch mal eine kleine Zusammenfassung zu versuchen: Die neue Buchreihe wird sich also denjenigen Bereichen des Theaters widmen, die bestehende Strukturen und Produktionsweisen – auch die selbst geschaffenen – immer wieder in Frage stellen und zum wesentlichen Bestandteil ihrer Kunst machen.  Malzacher: Tatsächlich ist das Mäandernde und Suchende unseres Gesprächs vielleicht symptomatisch, wie auch der Umstand, dass es (noch immer) keine Geschichte des postdramatischen oder Freien Theaters gibt. Es gibt Hans-Thies Lehmanns Buch, das ja aber auch keinen umfassenden Überblick versucht – und das zwanzig Jahre alt ist. Und es gibt akademische Arbeiten über Teilbereiche und Einzelkünstler*innen etc. Aber es gibt keinen zusammenhängenden Überblick oder auch nur eine Einführung in das postdramatische Theater für eine etwas breitere Leserschaft, für ein „normales“ Publikum. Deshalb ist es uns auch so wichtig, einen Beitrag zu einer Standortbestimmung dieser Gruppen zu leisten – und interessierten Zuschauer*innen die Möglichkeit zu geben, etwas mehr darüber zu erfahren, was sie da sehen.

Quiñones: Dabei wollen wir die künstlerische Praxis in den Mittelpunkt stellen und die Künstler*innen vor allem selbst zu Wort kommen lassen.

Wewerka: Ihr habt für diese Reihe vorerst zwölf Künstler*-innen respektive Gruppen ausgewählt. Welche Kriterien haben Euch geleitet?

Malzacher: Wir haben uns dafür entschieden, nicht unbedingt originell zu sein. Wir glauben, dass es für das deutschsprachige postdramatische freie Theater auch notwendig ist, mit aller gebotenen Ironie so etwas wie einen in sich widersprüchlichen, disharmonischen Kanon aufzubauen. Gleichzeitig soll es eine sich immer erweiternde Bestandsaufnahme sein und kein Best of – d. h. wir denken die Reihe im Prinzip ohne Ende.

Quiñones: Leider ist es ja nicht so, dass das postdramatische Theater als vergleichsweise immer noch junge Entwicklung bereits durchgesetzt wäre.  Wewerka: Die Reihe hat jetzt schon eine Auszeichnung erhalten: Sie ist nämlich eines von dreißig Jubiläumsprojekten der Kunststiftung NRW. Was bedeutet das?

Peters: Im September wird die Kunststiftung NRW 30 Jahre alt: Wir haben aus den vier Förderabteilungen (Performing Arts, Literatur, Musik, Visuelle Kunst) 30 besondere Neuproduktionen ausgewählt und Aufträge vergeben. Schon in meiner Zeit am Künstlerhaus Mousonturm habe ich z. B. durch die Herausgabe oder Koproduktion von Publikationen gegengesteuert, um zu verhindern, dass bestimmte Künstler*innen und Diskurse aus dem Gedächtnis verschwinden, kunsthistorisch nicht berücksichtigt werden, und dadurch eine Kanonbildung in Schieflage entsteht. In der Bildenden Kunst läuft das ganz anders: Ohne Katalog, ohne Kontextualisierung, ohne Geschichtsschreibung bist du nichts bzw. hast keinen Marktwert, also wird hier traditionell viel mehr investiert. Im postdramatischen Theater ist das immer noch eine Leerstelle, die dringend besetzt werden muss. Es geht um die Korrektur einer unzeitgemäßen Deutungshoheit. Die Kunststiftung NRW als die größte unabhängige Fördereinrichtung des Bundeslandes sieht sich hier in der besonderen Verantwortung, gerade den freischaffenden Künstler*innen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen.

Behrendt: Die Reihe beinhaltet Monografien über einzelne Gruppen und Künstler*innen, keine lineare Gesamtschau aus einer Hand. Inwiefern stellen die Portraits dem eine alternative Geschichtsschreibung gegenüber?

Malzacher: Das eine – wie auch immer subjektiv gefärbte – Narrativ kann es bei einer so disparaten Szene ohnehin nicht geben. Im Gegenteil, uns sind die Ausschlüsse, die wir mit dieser Reihe notgedrungen erzeugen, als Problem sehr bewusst: Wir bewegen uns im Bereich deutschsprachiger Gruppen, der Schwerpunkt liegt auf dem Theater. Tanz und die internationale Szene, die für das Postdramatische so wichtig sind, fallen damit erstmal heraus.

Wewerka: Diese Monografien werden keine Abhandlungen von jemandem über andere, sondern: Die Künstler*innen selbst kommen zu Wort und sind ausdrücklich eingeladen, die Bände mitzugestalten. Das deckt sich auch mit der Praxis und dem Ethos unseres Verlags.

Malzacher: Es geht darum zu zeigen: Da ist etwas, und das wird bleiben.

Eva Behrendt ist Redakteurin der Zeitschrift Theater heute.
Florian Malzacher ist freier Kurator, Dramaturg und Autor.
Christine Peters ist seit August 2018 Expertin für Performing Arts bei der Kunststiftung NRW.
Aenne Quiñones ist seit 2012 stellvertretende künstlerische Leiterin des HAU Hebbel am Ufer in Berlin.
Kathrin Tiedemann ist seit 2004 künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des FFT Düsseldorf.
Alexander Wewerka gründete 1983 den Alexander Verlag Berlin mit dem Schwerpunkt Theater- und Filmliteratur.