Wie kann Theater heute intervenieren?

Christine Wahl im Gespräch mit Florian Malzacher & Bernd Stegemann

In: Brecht und das Theater der Intervention. Hg. Christian Hippe et al. Berlin: Verbrecher Verlag, 2023. 47-78.

11 FEB 2020 · Brecht-Haus Berlin


Christine Wahl: Es soll darum gehen, Bertolt Brechts Ideen zur Intervention auf der Folie des gegenwärtigen Theaters zu diskutieren. Mit Brecht lassen sich in diesem Zusammenhang im Wesentlichen drei künstlerische Strategien benennen; nämlich erstens das epische, dialektische Theater, zweitens das Lehrstück – als spezielle Form zur Einübung von Haltungen für die Spielenden –, und drittens das direkte Eingreif-Theater. Unter letzterem stellte Brecht sich „kleine, wendige Kampftruppen“ vor, die aus dem Theater herausgehen und mit Liedern oder Sketchen vor Ort direkt auf die „echte Situation ihrer Zuhörer“ eingehen, sprich: „auf ihre echten, eventuell sehr kleinen und niedrigen Probleme“.

Welche Anknüpfungspunkte oder – möglicherweise – auch Weiterentwicklungen finden sich davon heute im Theater? Was können diese Formen leisten, was nicht? Und inwiefern sind sie abgetrennt von der konkreten historischen Situation Brechts und der Klassenfrage, die für ihn ja eine zentrale Rolle spielte, überhaupt denkbar?

Ich freue mich, diese Fragen mit Bernd Stegemann und Florian Malzacher zu diskutieren – beide sowohl Theaterwissenschaftler als auch -praktiker, die mit konträren ästhetischen Positionen hervorgetreten und hier auch antipodisch besetzt sind. Dabei sehe ich jenseits dieser offensichtlichen Differenzen durchaus Gemeinsamkeiten und Überschneidungspunkte – mit denen ich den Abend gern eröffnen würde: Beide, Stegemann wie Malzacher, haben in den letzten Jahren Bücher vorgelegt, die mit einer ähnlichen Diagnose des Gegenwartstheaters beginnen – wenngleich sie daraus jeweils unterschiedliche Schlüsse ziehen. Bernd Stegemanns Publikation heißt – Brecht paraphrasierend – „Lob des Realismus“ und stammt von 2015; der von Florian Malzacher mitherausgegebene Band trägt den ursprünglich auf ein Hegel-Zitat rekurrierenden Titel „Truth Is Concrete“ und kam im Jahr 2014 heraus.

Beide Bücher nehmen ihren Ausgangspunkt bei einem gewissen Unbehagen am damaligen state of the art, namentlich der postmodernen Ästhetik – begriffen hier im Sinne der typischen, durchgesetzten postmodernen Stilmittel. Bernd Stegemann bezeichnet diese Ästhetik als Zitierspiele der Selbstreferenz: Es geht, sinngemäß, um Zeichen oder Signifikantenketten, die auf nichts anderes mehr verweisen als auf sich selbst, die also über keinen Außenweltbezug mehr verfügen und so auch als Rezeptionsangebot im Grunde nur noch auf ihre eigene Wahrnehmbarkeit und Wahrnehmungsweise rekurrieren. Ihre Rechtfertigung findet diese Ästhetik im postmodernen Relativismus, also im Befund von der angeblich nicht mehr darstellbaren Komplexität der Welt – womit sie Bernd Stegemanns Argumentation zufolge eine gewisse Entlastungsfunktion erfüllt.

Auch Florian Malzacher spricht über die Komplexität der Welt und über einen – in diesem Fall „intellektuellen“ – „Relativismus“: „Das ständige Bewusstsein für die Komplexität der Begriffe Wahrheit, Realität oder sogar Politik scheint uns in eine Sackgasse geführt zu haben“, schreibt er in „Truth Is Concrete“. „Entweder sind wir zu einfach oder wir sind zu komplex, sind zu populistisch oder stecken in einem hermetischen Eremitentum fest. … Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem das notwendige Bewusstsein, dass alles kontingent ist, häufig zu einer Entschuldigung für intellektuellen Relativismus geworden ist.“

Soweit also die parallele Diagnose – jetzt zu den unterschiedlichen Schlüssen. Florian Malzacher diskutierte und entwickelte als Dramaturg des Festivals „steirischer herbst“ in Graz seinerzeit Interventionsstrategien in die Wirklichkeit – in einem siebentägigen Marathoncamp zusammen mit Aktivisten, Theoretikerinnen, Theaterpraktikern und Künstlerinnen. Die Intention bestand darin, Kunst direkt und explizit mit politischen Handlungsakten zu verbinden – eine Strategie, die inzwischen als „Artivism“ gelabelt ist, im Rückgriff auf die englischen Vokabeln für Kunst („art“) und Aktivismus („activism“).
Bernd Stegemann kommt zu einem anderen, in gewisser Weise gegenteiligen Schluss. Statt als Medium des Eingreifens macht er das Theater als Medium der Reflexion stark; als ein Medium, in dem Widersprüche dialektisch zur Darstellung kommen und somit auch zur Disposition gestellt werden.

Als Theaterkritikerin stelle ich fest, dass beide Überwindungsstrategien der Postmoderne in der künstlerischen Praxis mittlerweile einen festen Platz haben. Einerseits lässt sich sowohl auf der Text- als auch auf der Inszenierungsebene durchaus eine Rückkehr zu Fabel, Figur und Konflikt erkennen, andererseits hat die interventionistische Kunst Konjunktur – man denke etwa an das Zentrum für politische Schönheit (ZpS).
Bernd und Florian – eure Diagnosen zum Gegenwartstheater wurden vor sechs beziehungsweise sieben Jahren veröffentlicht. Sind sie aus eurer Sicht noch gültig?

Bernd Stegemann: Ich glaube, die politische Landschaft hat sich in den letzten Jahren verändert. 2015 gab es zwar schon die AfD, aber sie lag in den ersten Wehen. Sie war noch nicht wirklich ein Thema, also zumindest für mich nicht. Die politische Landschaft war eine andere, und zwar sowohl, was die Spaltungen, Verwerfungen und Empörungskurven anbelangt, als auch was einen gewissen Mitte-Konsens betrifft. Hinzu kommt – um das andere große Thema zu nennen, das wir seit letztem Jahr auch in Berlin jeden Freitag in Erinnerung gerufen bekommen – die drohende Klimakatastrophe. Deren Bewusstwerdung hatte zuvor einige Konjunkturwellen durchlaufen. Es gab Al Gore in den U.S.A., die Berichte des Club of Rome und so weiter, aber 2015 war das alles wieder versandet. Da hat sich seitdem sehr viel verändert. Bei der Analyse, die ich damals versucht habe, – also: Wie ist denn überhaupt der Weltzustand? Worum geht’s denn eigentlich? – habe ich mich sehr auf den Komplex des Neoliberalismus fokussiert. Die Atomisierung der Gesellschaft, jeder wird vereinzelt, jeder muss Unternehmer seiner selbst werden, die Biopolitik usw., waren die Schlagworte, die wir alle damals rauf und runter nicht nur nachgeplappert, sondern auch tatsächlich erlebt haben. Denn seit den 2000er Jahren fand der Komplettumbau einer sozialdemokratisch verfassten Gesellschaft in eine Gesellschaft der Einzelkämpfer statt. Und seit der „Kritik des Theaters“ (2013) untersuche ich, wie sich dieser gesellschaftliche Umbau in den ästhetischen Mitteln des Theaters spiegelt. Daraus resultierte dann eine Kritik an bestimmten performativen Spielformen. „Performance“ heißt ja im Englischen auch „Leistung“. „Passion to perform“, so hat die Deutsche Bank immer geworben, und der Spruch hing übergroß im Frankfurter Flughafen.

Die Performance hat, auf die Gesellschaft bezogen, sehr viele Doppeldeutigkeiten, und es gab darin viele Parallelen zum neoliberalen Umbau der Gesellschaft. Ich meinte zu beobachten, dass es in gewissen performativen Spielweisen ein ungeklärtes, wenn nicht sogar affirmatives Verhältnis zu dieser Art von Beschleunigungs-, Vereinzelungs-, Selbstausbeutungs- und Authentizitätsbestrebungen gab, die sich gesellschaftlich durchgesetzt haben. Dagegen habe ich versucht starkzumachen, dass das Theater eine handwerkliche Kunst ist, sprich: A spielt die Figur B vor C. Das ist ja das berühmte Theaterdreieck: Es gibt einen geschriebenen Rollentext, der wird von einem Schauspieler/einer Schauspielerin zu einer Figur, und die agiert dann vor Zuschauern. Dieses alte, klassische Dreieck versuchte ich nochmal stark zu machen und zu befragen: Was kann das eigentlich im Angesicht einer Gesellschaft leisten, die genau diesen Zusammenhang zerstören will, weil sie immer versucht, den Menschen auf sich selber zurückzuwerfen und zu sagen: du bist deines Glückes Schmied, du bist verantwortlich, ob’s klappt oder nicht, und beziehe dich erst nicht auf irgendwelche Sicherungssysteme oder Verabredungen, denn das zählt alles nicht mehr. Du bist jetzt dein eigener Herr und Knecht zugleich. Dagegen versuchte ich dieses andere, klassische Konzept von Theater stark zu machen.

Christine Wahl: Ich gehe davon aus, dass sich deine Sicht – insbesondere auf die Performance – von Bernds Sicht maßgeblich unterscheidet, Florian?

Florian Malzacher: Naja, klar. Aber statt mich nun daran abzuarbeiten, möchte ich versuchen, meine eigene Position zu formulieren. Und da fange ich vielleicht tatsächlich bei „Truth is concrete“ an, einem 170stündigen Non-stop-Projekt zu dem wir 2012 im Rahmen des steirischen herbst in Graz hunderte Künstler:innen, Aktivist:innen, Theoretiker:innen eingeladen hatten. Daraus ist dann das erwähnte Handbuch für künstlerisch-politische Strategien entstanden. Der Titel bezog sich übrigens auf Brecht: „Die Wahrheit ist konkret“ – das stand, laut Benjamin, als Mahnung über Brechts dänischem Exil-Schreibtisch.

Christine Wahl: Genau: „Truth is concrete“ rekurriert – um den Verweisungskosmos auszubuchstabieren – auf ein Diktum Georg Wilhelm Friedrich Hegels, auf das wiederum Brecht gern zurückgriff, um den Fokus auf die ökonomischen Existenzbedingungen zu legen. Mit anderen Worten: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“

Florian Malzacher: Als wir anfingen, an „Truth is concrete“ zu arbeiten, hatte die Welle weltweiter Platzbesetzungen und Demonstrationen, die dann das Jahrzehnt prägen sollten, gerade begonnen: Tunesien, Ägypten, dann in Spanien, in New York … Bis heute brechen solche Bewegungen an unterschiedlichen Orten immer wieder auf – natürlich nicht immer aus den exakt gleichen Gründen. Was diese sozialen Bewegungen aber in aller Regel eint, ist ihre Forderung nach mehr Demokratie. Das hat viel in Bewegung gebracht, auch in der Kunst. „Truth is concrete“ war damals nicht zuletzt auch ein Moment der eigenen Positionsbestimmung. Für mich als gut poststrukturalistisch geschultem Absolventen der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen war das Motto „Die Wahrheit ist konkret“ durchaus auch eine Selbst-Provokation: Schließlich interessierte uns in den 1990er Jahren vor allem, wie Wirklichkeit kulturell konstruiert wird – da war der Begriff „Wahrheit“ nur bedingt vorgesehen. Vor allem aber ging es in Gießen darum, dass Theater wesentlich mehr zu bieten hat, dass es deutlich mehr Spielarten und auch ganz andere Arten des Umgangs mit dem Publikum oder mit Rollen kennt, als es das dramatische Theater in der Regel zulässt. Das ging einher mit der Vorstellung, dass man nicht immer nur über andere reden dürfe, wie es das Theater ja bis heute oft tut, sondern dass man bei sich selbst anfangen muss. Damit hängt dann auch die Frage zusammen, wen man eigentlich auf der Bühne repräsentieren kann oder darf.

Dieser Blick auf die eigene Lebenswelt war damals, glaube ich, sehr richtig – eine notwendige Reaktion auf das politische Repräsentationstheater, das die 1970er und 80er Jahre geprägt hatte und das Politische – sehr vereinfacht gesagt – primär in seinen Inhalten gesucht hat: Es ging darum, das Elend der Familie X in, was weiß ich, Südafrika zu zeigen oder in einem Arbeiter:innenbezirk in Manchester etc. Der Inhalt machte das Theater politisch. Dazu formulierte sich dann vor allem in den 1990er Jahren in Gießen und anderswo eine Gegenposition, die stärker die Form in den Blick rückte – und dazu gehörte auch die Frage, wie wir im Theater eigentlich zusammenkommen. D.h. dem „Was“ des vor allem auf Repräsentation basierenden Regie-Theaters wurde das „Wie“ des postdramatischen Theaters gegenübergestellt, wie es Hans-Thies Lehmann ja detailliert beschrieben hat. Dieses „Wie“ bezieht sich übrigens auf die Kommunikation mit dem Publikum genauso wie auf die Arbeitsweise und den Umgang hinter den Kulissen.

Doch auch diese Gegenbewegung hat natürlich keine Lösung für immer gefunden. Irgendwann wurde diese Konzentration aufs „Wie“ auch eine Falle. Man muss Kunst nunmal immer im Kontext der jeweiligen Zeit begreifen – das, was in den 1970er Jahren künstlerisch produktiv war, funktioniert heute vielleicht überhaupt nicht mehr. Und das gleiche gilt für das, was in den 1990er Jahren entwickelt wurde. In der Kunst und in der Politik muss man halt immer wieder schauen, welche Mittel noch brauchbar sind. Und ich glaube, ganz simpel, dass heutiges politisches Theater sowohl in seinen Inhalten wie auch in seinen Formen politisch sein muss – auch darum ging es bei „Truth is concrete“. Die Frage nach konkretem politischem Engagement wurde damals einfach sehr offensichtlich: Gespräche mit Künstler:innen in Ägypten oder Tunesien oder später in New York etc. hatten sich plötzlich verändert. Es war schlicht ein bisschen albern, darüber zu reden, wer denn nun die nächste Uraufführung bekäme und ob das besser in diesen oder jenen Raum passe. Die Gespräche waren nun ganz unmittelbar politisch – und drehten sich oft um die Rolle von Künstler:innen in solchen konkreten politischen Situationen: Bin ich auf dem Tahrir Square in Kairo Künstler:in? Bin ich einfach Bürger:in? Und danach geh ich dann in mein Studio oder arbeite an der nächsten Inszenierung? Oder gibt es eine Möglichkeit, das zusammenzubringen? Diese Erlebnisse haben für viele Künstler:innen dauerhaft etwas verschoben – und das Bedürfnis, Kunst und Politik nicht als getrennte Sphären zu betrachten, hat natürlich viel mit Brecht zu tun.

Christine Wahl: Bernd, auch du bist – oder warst zumindest – politisch aktiv, namentlich als Mitinitiator der „Aufstehen“-Bewegung. Warum stellt sich das Verhältnis zwischen Kunst und unmittelbarem politischen Engagement für dich so anders dar als für Florian?

Bernd Stegemann: Ich weiß gar nicht, ob das so anders ist, ich habe es nur ganz anders gewichtet. Ich finde diese Trennung, die du, Florian, nochmal beschrieben hast, also „worum geht es“ und „wie wird es gemacht“, immer schon grundlegend falsch. Wir haben ja spätestens bei Brecht gelernt, dass das Verhältnis zwischen dem Inhalt und der Art, wie dieser Inhalt sinnlich anschaubar, nacherlebbar, fühlbar oder auch denkbar gemacht wird, der entscheidende ästhetische Vorgang im Theater ist. Und genau da hat Brecht einen fundamentalen Paradigmenwechsel eingeleitet: von dem durch Illusion oder Mitfühlung manipulierten Zuschauer zu einem staunenden, mitdenkenden, reflektierenden Zeitgenossen. Dieser große Paradigmenwechsel gilt meiner Meinung nach bis heute. Wenn wir ins Kino gehen, werden wir immer noch in eine Vor-Brechtsche Zuschauerperspektive gebracht, weil wir reingelutscht werden in dieses Leinwandgeschehen – Ausnahmen gibt es natürlich immer, aber das gilt im Großen und Ganzen für das Mainstream-Hollywood-Kino. Trotzdem können in solchen Filmen inhaltlich natürlich brisante soziale Missstände usw. Thema sein. Aber trotzdem werden sie in einer Form der Einvernahme verhandelt. Das häufigste politische Gefühl ist dann die Empörung und die ist bekanntlich die Politik der Dummen. Brechts Weg ist dialektischer. Seine Versuche bestehen darin, dass der Zuschauer nicht in das Thema, das verhandelt wird, hineinfällt, sondern dass er in eine Distanz dazu gerückt wird und sich plötzlich wundert, wieso das eigentlich so ist, wie es ist. In der Hoffnung, dass er mit diesem verwunderten Blick dann wiederum auf die Straße geht und dann genauso verwundert guckt und sagt: Wieso sind die Mietpreise so hoch? Wieso ist der oder jener so gemein? Wieso ist der Busfahrer immer so schlecht gelaunt? Das Ziel ist also, eine materialistische Art von Alltags-Analyse in Gang zu setzen. Wenn Kunst das erreicht und diesen Punkt bei einem Zuschauer erwischt, dass er im besten Fall eine Frage mit in die Realität nimmt, dann ist es genau das, worum es mir geht.

Florian Malzacher: Das ist vermutlich ein Punkt, den wir weiter schärfen müssen: Dass es nicht reicht, zur Reflexion und Kritik anzuregen. Es geht auch um das Verhältnis von Publikum und Bühne und darum, welche Rolle die Zuschauer:innen spielen – wie das Brecht ja auch schon gesagt hat: „Das Theater, wie wir es vorfinden, zeigt die Struktur der Gesellschaft (abgebildet auf der Bühne) nicht als beeinflussbar durch die Gesellschaft (im Zuschauerraum).“ Und es geht darum, wer repräsentiert wird – und von wem. Ich würde die Frage der Repräsentation auf dem Theater nicht von der der Repräsentation in der Gesellschaft trennen. Was bedeutet es, wenn ein weißer Schauspieler auf der Bühne einen Schwarzen spielt? Auch das hat ja Brecht schon angemerkt, als er sich in seiner Stanislawski-Kritik darüber lustig gemacht hat, wenn wohlgenährte Schauspieler:innen ausgemergelte Arbeiter:innen spielen. Und die Rolle des Publikums wird in den Lehrstücken radikalisiert. Auch wenn er das selbst dann nicht konsequent vollzogen hat – da landen wir dann eher bei Augusto Boal, der die Bühnenräume verlassen und das Publikum zu Mitspieler:innen gemacht hat. Es gibt ja den mitunter Brecht oder Marx zugeschriebenen, aber eher von Majakowski stammenden Spruch, dass Kunst kein Spiegel ist, in dem sich die Welt, die Gesellschaft spiegelt, sondern ein Hammer, um sie zu verändern. Die Frage ist: Lässt sich die Welt durch rein kritisches Beobachten verändern oder geht es eben darum, tatsächlich – in welcher Form auch immer – mit Kunst direkt zu intervenieren bzw. umgekehrt die Realität in das Theater intervenieren zu lassen.

Christine Wahl: Ich sehe: Du möchtest auf diese Frage direkt reagieren, Bernd!

Bernd Stegemann: Jetzt wird es allerdings ein wenig komplizierter. Wenn man sagt, Kunst ist der Hammer, um die Welt zu verändern, klingt das natürlich ziemlich robust, aber gleichzeitig muss man sagen, dass dem, der mit dem Hammer auf die Welt guckt, alles zum Nagel wird. Es gibt Probleme, die lassen sich nicht mit dem Hammer lösen. Die Datencloud von Google kannst du nicht einfach mit dem Hammer zerstören. Auch den Finanzmarktkapitalismus kannst du nicht mit dem Hammer zertrümmern. Im Prinzip sind alle großen Hegemonialsysteme momentan so verfasst, dass sie nicht mit einem Hammer zu erreichen sind. Insofern muss Kunst noch über andere Handwerksmittel verfügen als diesen Hammer, um überhaupt erst mal auf die Höhe der Komplexität zu kommen, damit überhaupt wieder begreifbar wird, was da gerade in der Welt um sie herum für Machttechniken praktiziert und produziert werden. Denn diese Techniken haben eine große Virtuosität entwickelt, sich selber unsichtbar zu machen oder harmlos zu wirken. Also dieser alte, klassische Punkt der Aufklärung, den „ideologischen Schleier“ ein wenig zu lüften und zu sagen: So Freunde, glaubt doch bitte nicht immer alles, was das Unternehmen X oder die Politikerin Y über sich selber verbreiten, sondern schaut doch mal ein bisschen anders darauf. Das allein ist schon eine wesentliche Aufgabe, die das Theater oder jede Art von öffentlich kritischer Instanz leisten sollte.

Christine Wahl: Wobei es ja auch beim interventionistischen Theater „entschleiernde“ Praktiken gibt, exemplarisch etwa bei Künstlerkollektiven wie den Yes Men, die stark mit Verfremdungseffekten arbeiten.

Bernd Stegemann: Keine Frage, das ist Cultural Hacking. Das ist ja auch das, was das Zentrum für politische Schönheit schon oft wirkungsvoll gemacht hat. Da wird die Welt zur Bühne, da werden bestimmte kulturelle Erscheinungen in der Welt quasi uminszeniert, sodass man plötzlich auf die Rückseite schauen kann.

Christine Wahl: Genau. Das sind Aktionen mit einem starken Aufklärungsimpetus und -effekt.

Bernd Stegemann: Da wollte ich gar nicht widersprechen.

Florian Malzacher: Ich stelle den Wert kritischen Denkens ja nun auch nicht in Abrede. Aber ich glaube, Theater und Kunst haben einfach auch noch andere Möglichkeiten. Intervention ist eine davon – und das bedeutet ja nicht, dass jedes Theater interventionistisch oder aktivistisch sein muss. Mir ist noch wichtiger, dass das Theater Räume schaffen kann, in denen Wirklichkeit auf eine sehr spezifische Weise verhandelt werden kann. Das Erzeugen temporärer Gemeinschaften im Theater hat ein politisches Potential. Hier kann Gesellschaft nicht nur analysiert, sondern auch ausprobiert werden – real und fiktional zugleich, tatsächlich und symbolisch zugleich. Man ist Teil von etwas und kann sich zugleich von außen beobachten. Das ist die paradoxe Maschine des Theaters. Ich bin überzeugt davon, dass Theater mehr kann als ihm bisweilen zugetraut wird. Und vielleicht gerade, weil es im Kern altmodisch ist: Es ist langsam, anthropozentrisch, permanent kompromiss- und fehlerbehaftet. Es gibt für mich eine Nähe zwischen Bewegungen wie Occupy und Theaterversammlungen, nämlich in der Frage, wie man sich versammelt, wie man sich anders versammeln könnte. Ich glaube nach wie vor, dass das Theater da ein wichtiges, auch politisches Potential hat. Das ist nicht der Hammer, mit dem man mal schnell die Welt ummeißelt. Aber Theater sollte durchaus den Anspruch an sich selbst stellen, aktiver Teil der Veränderung der Gesellschaft zu sein und nicht nur zu analysieren. Darauf würde ich, durchaus im Sinne Brechts, beharren.

Christine Wahl: Apropos Weltveränderung. Brecht Prämisse von der Veränderbarkeit der Welt ist ja spätestens nach Francis Fukuyamas Befund vom „Ende der Geschichte“ etwas aus der Mode geraten – und mit ihr die Konzeption eines interventionistischen oder im Brecht`schen Sinne Bewusstsein schärfenden Theaters. Für viele steht diese Prämisse heute, angesichts der aktuellen sozialen, politischen und ökologischen Katastrophenszenarien, eher umso stärker in Zweifel.

Bernd Stegemann: Ich war das letzte Mal, als Greta Thunberg in Berlin war, tatsächlich bei Fridays for Future mit dabei. Und ich fand die beste künstlerische Aktion des letzten Jahres ihre Rede „How dare you“. Das ist für mich interventionistisches Theater gewesen. Sei es Begabung, sei es Intelligenz: Sie hat gewusst, dass sie in diesen 90 Sekunden, wo die gesamte Welt auf sie schaut, Gefühl bieten und produzieren muss. In der antiken Rhetorik spricht man von Aposiopese, wenn in der Rede, dem geschriebenen Manuskript, schon der Gefühlsausbruch hineingeschrieben ist. Ich habe mir das ein paarmal angeguckt. Ich fand das grandios, sie macht das sehr gut. Auch wenn’s ihr einfach so passiert ist, ist das für die Wirkung egal, denn wir sprechen über Theater, also die Wirkung ist das entscheidende. Und ihre Worte haben eine so durchschlagende Wirkung gehabt, dass wirklich alle darüber gesprochen haben und es alle erreicht hat, im Positiven wie auch durch hochgradig ablehnende Reaktionen. Es hat ja bei vielen Leuten zu unfassbaren Aggressionsschüben geführt, die aber trotzdem im Sinne der Sache sind, nämlich der Steigerung der Aufmerksamkeit für das Thema Klimawandel. Ich fand das einen grandiosen Moment von Theater, der dort passiert ist. Wo ich dir, Florian, völlig zustimmen würde, ist, dass das Theater eine wahnsinnige Kraft hat, innerhalb von kürzester Zeit ganz viele Vorzeichenparadigmen, Gefühlseinstellungen usw. aufzurühren, zu irritieren und sogar zu verändern – also bei mir zumindest hat es etwas verändert. Und ich bin dadurch ins Nachdenken gekommen, was die Fragen des Anthropozän sind. Ich hätte bis vor einem Dreivierteljahr noch gesagt, der Hauptfeind ist natürlich, wie ich es eben schon skizziert habe, diese sich immer weiter atomisierende und die Menschen immer weiter gegeneinander aufbringende falsche ökonomische Struktur der Welt. Ich glaube immer noch, dass das eine gigantische Ursache für viele Probleme ist, die wir haben. Aber ich glaube auch, dass noch ein zweites, großes Problem dazugekommen ist. Und das ist das Anthropozän, also ein neuer Paradigmenwechsel, der gerade stattfindet. Wir kennen alle die drei berühmten narzisstischen Kränkungen durch die das Cartesianische Subjekt entstanden ist: wir sind nicht mehr im Zentrum des Universums, wir sind irgendwie mit dem Affen verwandt und wir sind nur ein Untermieter im eigenen Oberstübchen, sprich: Wir sind nicht Herr unser eigenen Triebe und geistigen Ressourcen. Diese drei Paradigmenwechsel – Kopernikus, Darwin, Freud – haben das berühmte Subjekt der Selbststeigerung, Selbstheilung, Selbstreflexion, Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit hervorgebracht. Auf diesem ganz neuen Verhältnis zu uns selber beruht das berühmte europäische, abendländische Menschenbild, und das ist inzwischen gigantisch erfolgreich. Es leben fast 8 Milliarden unserer Spezies, Menschenaffen gibt es kaum noch 50.000. Wir haben 68 Milliarden Hühner zu unserer Ernährung qualvoll eingesperrt, die Singvögel sterben aus usw. Es ist eine in jeder Hinsicht extreme Erfolgsgeschichte und eine extreme Horrorgeschichte. Und jetzt kommt noch eine weitere, meiner Meinung nach vierte narzisstische Kränkung hinzu, nämlich das Anthropozän. Da heißt es plötzlich: Diese Erfolgsgeschichte gräbt uns Menschen gerade das Wasser ab. Oder umgekehrt: Die lässt uns irgendwann ersticken, ertrinken, durch Hitze und Epidemien zugrundegehen. Erst haben wir die Umwelt ruiniert und jetzt ruinieren wir die Lebensgrundlagen für alle. Das ist ein globaler Wendepunkt, weil er alle Grundeinstellungen dessen, was wir unter Subjekt verstehen, umwirft. Das Subjekt wird eben nicht, wie dieses berühmte „Gesicht im Sand“ bei Foucault, als ein Konzept von Menschsein durch eine schöne Meereswelle einst weggeschwemmt, sondern es wird auf eine ganz konkrete Art zerstört, nämlich nicht als Konzept, sondern als Gattung. Das ist der große Paradigmenwechsel. Wir haben bis dato in der Moderne und Postmoderne vom Menschen als Konzept geredet, aber was momentan auf der Schlachtbank liegt, ist nicht mehr das Konzept des Subjektes, sondern diese Konzeption von Subjekt führt vielmehr dazu, dass die tatsächliche biologische Bedingung des Menschseins, also unsere Gattung, zerstört wird. Das ist etwas zutiefst verstörendes, so dass man gar nicht früh genug damit anfangen kann, sich mit dieser Bedrohungslage zu konfrontieren. Ich empfinde diese vierte Kränkung natürlich auch als eine Beleidigung, sie ist eine regelrechte Unverschämtheit. Als wäre das Leben nicht sowieso schwierig genug, heißt es jetzt – neben den 1000 anderen Problemen, die wir als Menschen in dieser komplizierten Welt haben – auch noch, dass das ganze Unternehmen Menschheit sowieso falsch ist. Auch ich finde das sehr schwer auszuhalten. Und natürlich führt das bei vielen Menschen zu Abwehr, auch bei mir. Man bemerkt, dass sich dauernd Abwehrstrategien bilden gegen diesen Schrecken und die fundamentale Infragestellung, die damit einhergeht. Und genau da treibt mich in den letzten Monaten die Frage um: Was kann Theaterkunst hier ausrichten?

Christine Wahl: Gibt es darauf denn schon eine Antwort?

Bernd Stegemann: Ich weiß es nicht. Darüber sollten wir alle zusammen nachdenken.

Christine Wahl: Lässt sich Brecht überhaupt ins Spiel bringen, wenn es ums Anthropozän und um das Überleben der Gattung Mensch geht?

Bernd Stegemann: Dem Anthropozän liegt ein großer Anteil materialistischer Problematik zugrunde, weil es eben die Lebensbedingungen betrifft. Aber das Problem ist, dass dieses materialistische Fundament des Anthropozäns nicht nur über soziale Ungleichheit funktioniert. Vor dem Klima sind wir alle gleich, auch wenn es wieder Gewinner und Verlierer geben wird, in den gemäßigten Breiten und in den nicht so gemäßigten. Die Verbindung, die ich in meinem eigenen Denken gerade näher zu erfassen versuche, ist die Verbindung zwischen dem Cartesianischen Subjekt und dem Wachstumszwang des Kapitalismus. Ein unendliches Wachstum kann in einer endlichen Welt logischerweise nicht funktionieren. Dennoch können wir uns als die anspruchsvoll selbstbewussten Menschen, die wir sind, fatalerweise keine Ökonomie vorstellen, die nicht auf Wachstum ausgerichtet ist.

Florian Malzacher: Ich würde gerne wieder etwas konkreter werden. Es geht jetzt ja um sehr große Bögen. Die Klimakatastrophe überschattet alles, und die immense Dynamik bringt uns teilweise in eine rein reaktive Situation – die Gefahr ist, dass die Wurzeln des Übels dabei nicht gepackt werden. Wenn es um Erderwärmung geht oder um die Veränderungen der Welt durch Künstliche Intelligenz etc. wird es tatsächlich schwierig für das Theater, das auf einen menschlichen Maßstab runterzubrechen – und das ist die Voraussetzung fürs Theater, aber auch seine besondere Fähigkeit. Anders gesagt: Das Theater kann sicher nicht viel tun, um die Klimakatastrophe zu beenden, aber es kann darüber nachdenken, wie man gemeinsam handelt: Im Kleinen und ganz konkret – da gibt es dann auch Schnittstellen zwischen Kunst und Aktivismus.

Um ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis zu bringen: Zusammen mit dem niederländischen Künstler Jonas Staal habe ich letztes Jahr das Projekt „Training for the Future“ ins Leben gerufen, bei dem ein Kunstraum – in diesem Fall die Bochumer Jahrhunderthalle – in ein Trainingscamp verwandelt wurde. Es ging um die Frage, was wir konkret, mit dem Blick auf die Zukunft, gemeinsam trainieren können. Die Vorstellung, dass wir die Welt nicht verändern können, ist ja in gewisser Weise nur eine weitere TINA-Modifikation, eine „there is no alternative“-Fortsetzung – diesmal halt unter dem Vorzeichen Klimakatastrophe statt Neoliberalismus. Unsere Frage war, wie man Zugriff auf eigenes Handeln bekommen kann. Dazu haben wir Künstler:innen und Aktivist:innen aus aller Welt eingeladen, um Trainings zu entwickeln. Wie schon gesagt: Auch hier ist für mich das Potential des Theaters, dass es Räume schafft, die real und fiktional, konkret und symbolisch zugleich sind. Es ist ein Reflexions- und ein Handlungsraum gleichzeitig, in dem man drinnen steckt und sich dennoch von außen beobachten kann. Eine Art eingebauter V-Effekt. Das ist bei Projekten wie „Training for the Future“ auch der Unterschied zum Aktivismus – wo es bei den Versammlungen, den Assemblies, oft einen starken Glauben an die eigene Authentizität gibt. Dazu hat das Theater ja ein komplexeres Verhältnis, weil es eben authentisch und nicht authentisch im selben Augenblick ist. Für viele Aktivist:innen ist „Ihr macht ja aus allem Theater“ ein Vorwurf, weil sie glauben, es würde ihr Handeln in den Raum der Fiktion rücken – aber das ist eben nur halb richtig.

Christine Wahl: Bernd, du forderst mehr Realismus im Theater. Ist der Klimakatastrophe mit dem Realismus beizukommen?

Bernd Stegemann: Das Schlimme ist, dass die Klimakatastrophe ihrem Wesen nach populistisch ist, weil sie sich als alternativlos darstellt. Die Hauptkritik an Fridays for Future lautet entsprechend: Ihr sprecht für das Klima und damit nehmt ihr für euch eine absolute Autorität in Anspruch. So wie andere für das Volk sprechen, sprecht ihr für das Klima. Wie kommt ihr überhaupt dazu? Dürft ihr das? Wer hat euch das erlaubt? Und was sagt eigentlich das Klima dazu? Sobald man das Anthropozän in die politische Kommunikation übersetzt, wird es extrem kompliziert. Aber das ist das, was gerade passiert, und da ist man dann sofort in diesen vielen Widersprüchen verfangen, die auftreten, wenn man einen Vorschlag in den politischen Raum wirft. Ein Beispiel dafür ist der Mietendeckel, der, so lautet der Vorwurf, sofort dazu führe, dass keiner mehr investiert, also Wohnraum knapper wird, weniger renoviert wird und somit die Wohnungen immer weniger werden. Genau das passiert ja auch gerade. Theater kann diese Schwierigkeiten nachbuchstabieren, beispielsweise ein Stück zum Mietendeckel machen oder zum Populismus der Klimaaktivisten, um diese ganzen Mechanismen vorzuführen. Das ist sicherlich hilfreich im Sinne eines klareren Verständnisses von Realität, und dennoch wäre es eine sehr simple Form von Realismus. In guten Momenten hat realistische Kunst darüber hinaus einen tatsächlichen Überschuss produziert, also ein prognostisch-utopisches Gefühl vermittelt, so dass die Menschen plötzlich dachten, ach sieh mal an, es muss ja gar nicht so bleiben, wie es ist, es könnte ja womöglich auch anders werden. Vielleicht geht es momentan erst mal um diesen Ausweg aus dem Sackgassengefühl, das wir alle letztlich schon in diesem Posthistoire-Verständnis immer noch haben, demgemäß es irgendwie, egal ob wir uns querstellen oder nicht, einfach immer so weitergehen wird wie bisher. Das ist natürlich eine fatal resignative Einstellung der eigenen Gegenwart gegenüber. Da wieder herauszufinden oder zumindest zu erkennen, dass es überhaupt einen Ausgang geben könnte, wäre womöglich eine interessante Emotionalität, die man im Zuschauerraum oder wo auch immer im theatralen Zusammenhang evozieren könnte. Aber wie man das macht, dass diese Wirkung – anders als diese unkonkrete Plastik-Musical-Euphorie, die man gleich wieder abgibt, wenn man sich den Mantel an der Garderobe zurückgeholt hat – auch anhält, das gilt es erst noch herauszufinden.

Florian Malzacher: Verschiedene Dinge haben unterschiedliche Zeitlichkeiten, unterschiedliche Geschwindigkeiten und existieren nebeneinander. Einerseits gibt es die Apokalypse der Klimakatastrophe. Andererseits gibt es nach wie vor das alltägliche Handeln – und das ist der Bereich, auf den das Theater einen Zugriff hat. Wenn jetzt alles den Bach runtergeht und wir in 20 Jahren alle tot sind, hat sich auch die Kapitalismuskritik erledigt, das stimmt. Aber wenn es darum geht, deutlich zu machen, dass ein bestimmter Konsumismus, bestimmte Formen des Wachstums, die du beschrieben hast, in einen Abgrund führen, dann ist die Klimakatastrophe – etwas zynisch formuliert – durchaus hilfreich: denn an ihr wird jetzt jedem klar, was mit Marxismus-Predigen nie funktioniert hat. Wenn man nicht davon ausgeht, dass es für jedes Handeln schon zu spät ist und dass es darum geht, unsere Weisen des Zusammenlebens, des Konsumierens etc. grundlegend zu verändern, dann reden wir wieder in menschlichen Maßstäben, und da kommt eben durchaus wieder das Theater ins Spiel. Wenn Greta Thunberg sagt, ihr sollt Panik kriegen, dann hat das ja eine Funktion. Sie redet ja gegen ein – gefühlt – komplettes Desinteresse an. Die drastische Formulierung folgt einem Kalkül. Wenn man also nicht in den Pathos-Panikmodus verfällt und dennoch begreift, dass man rasch und grundlegend handeln muss, dann sind alle Kunstformen und alle gesellschaftlichen Bewegungen gefragt, auf ihre Weise Zugriffsmöglichkeiten auf die Wirklichkeit zu entwickeln. Es bleibt uns ja nichts anderes übrig.

Christine Wahl: Ich würde, gemäß unserer Eingangsfrage, gern über einige aktuelle Theaterarbeiten sprechen, die sich auf Brecht beziehen. Schaut man in die Spielpläne, hat Brecht als Referenzpunkt ja durchaus Konjunktur: Allein in Berlin waren in den letzten Monaten drei neue Abende zu sehen – zwei Uraufführungen und eine Performance –, die ihn, auf unterschiedliche Weisen, zum Ausgangspunkt wählen, aber sämtlich eher auf den reflektierenden als den interventionistischen Gestus abheben: „Oratorium“ von She She Pop (im HAU Hebbel am Ufer, mit diversen Koproduzenten); „Ode“ von Thomas Melle (im Deutschen Theater) und „(Life On Earth Can Be Sweet) Donna“ von René Pollesch (ebenfalls im Deutschen Theater).

She She Pop beschäftigt sich in „Oratorium“ mit einem, wenn man so will, aktuellen antagonistischen Widerspruch, der sich gegenwärtig in Berlin, wie in vielen anderen Großstädten, immer weiter zuspitzt, nämlich demjenigen zwischen Eigentümerinnen und Nicht-Eigentümern, zwischen Immobilienbesitzern und Mieterinnen. Dieser Widerspruch wird von den Performerinnen in direkter Anlehnung ans Brecht`sche Lehrstück auf der Bühne durchgespielt, wobei She She Pop das Faktum, dass sich der besagte Riss auch direkt durch die die eigene Gruppe zieht, exemplarisch zum Thema macht: Einige Mitglieder des Kollektivs besitzen, andere nicht; einige werden erben, andere nicht. Ausgehend von diesem Grundmotiv wird das Publikum, in Lehrstück-Manier, im Verlauf des Abends mittels Texteinblendungen gebeten, sich selbst in bestimmte, mehr oder weniger konfligierende Milieus einzuordnen. Via Leuchtschrift werden die Zuschauerinnen und Zuschauer zum Beispiel aufgefordert, in den Chor der alleinerziehenden Mütter oder der Mieterinnen, der Erbinnen oder auch der Theaterwissenschaftlerinnen einzustimmen – was, neben der spielerischen Auseinandersetzung mit verschiedenen gesellschaftlichen beziehungsweise Diskurs-Positionen, nebenbei auch eine Art angewandte kleine Publikumssoziologie bietet: Man hat am Ende dieses Abends einen ziemlich konkreten Eindruck, wie sich die klassische Besucherschaft eines archetypischen, renommierten Freie-Szene-Theaters, zumindest in Berlin, zusammensetzt.
Ebenfalls auf das Brecht`sche Lehrstück rekurriert – wenngleich auf eine ästhetisch ganz andere Art – Thomas Melles Theaterstück „Ode“, das von Lilja Rupprecht am Deutschen Theater urinszeniert wurde. Dort geht es um das Thema der Repräsentation, das ja auch in unserer Diskussion schon anklang, mithin um die Frage, wer für wen auf der Bühne sprechen und wer wen wie spielen darf. Im Zentrum steht somit die Debatte um die Freiheit der Kunst, die in Melles Stück von rechts durch die Forderung nach Werktreue oder einem nationalen Kanon bedroht wird, während sie sich von links mit Repräsentationsfragen und Vorwürfen kultureller Aneignung konfrontiert sieht – welche sich konkret in der Frage verdichten, ob ein weißer Schauspieler eine migrantische Putzfrau spielen darf. Und diese Konstellation – auf der einen Seite der Künstler oder die Künstlerin, auf der anderen Seite das rechte bzw. das linke Kollektiv –, wird nun ebenfalls, in unterschiedlichen Szenen, in Brecht`scher Lehrstück-Manier durchgespielt.

Das dritte Stück wiederum, „(Life On Earth Can Be Sweet) Donna“ von René Pollesch, feiert 80 Minuten lang Brechts berühmte „Straßenszene“ als Grundmodell des epischen Theaters.

Betrachtet man diese aktuellen Theaterabende auf der Folie der eingangs ausdifferenzierten drei künstlerischen Strategien – also des epischen Theaters, des Lehrstücks und des Eingreif-Theaters – scheint das Brecht`sche Pendel gegenwärtig eher zugunsten der reflektierenden Wirklichkeitsbetrachtung als der direkten Intervention auszuschlagen. Teilt ihr diesen Eindruck, oder habt ihr diesbezüglich andere Beobachtungen gemacht?

Florian Malzacher: Dass dieser Eindruck entstanden ist, liegt an den Künstler:innen und Theaterräumen, auf die geschaut wurde. Ich glaube, dass Brecht für sehr viele direkt-politisch engagierte Künstler:innen genauso als Referenzpunkt gilt. Gerade die Frage, wie zum Beispiel das Lehrstück als Möglichkeit weiterentwickelt wird, gemeinsam zu denken usw., ist da, glaube ich, genauso verbreitet. Aber weniger an den großen Bühnen oder überhaupt an Bühnen, sondern im Bereich der Freien Theaterszene.

Christine Wahl: Wobei She She Pop aus der freien Szene kommt. Aber die derzeitige Häufung von direkt auf Brecht rekurrierenden Texten und Inszenierungen auf der großen Bühne, vielfach tatsächlich im Stadt- und Staatstheater, finde ich gleichwohl interessant. Es gab ja definitiv Zeiten, in denen Brecht deutlich weniger en vogue war. Wie schätzt du das ein, Bernd? Du arbeitest ja als Dramaturg am Brecht-Theater par excellence, dem Berliner Ensemble.

Bernd Stegemann: Wenn ich mir die Ausbildung an der HfS Ernst Busch anschaue, stelle ich fest, dass in den letzten Jahren die Lust gewachsen ist, erstmal auf die Realität zu gucken und dann zu überlegen, welche Art von Theater man aufgrund dieser eigenen Realitätsbeobachtungen, Erfahrungen, Erlebnisse man dann machen möchte. Das ist ein Unterschied zu der Zeit vor 15 oder 20 Jahren, als es einen größeren Drang gab, zunächst die ästhetischen Mittel des Theaters erlernen zu wollen, um dann gewissermaßen „Theater-Theater“ zu machen. Jetzt gibt es stärker die Richtung, zu sagen, nein, wir wollen von der eigenen Lebenswirklichkeit ausgehend Theater machen. Da hat man es dann mit einem Wust von Problemen zu tun, weil es, grob gesagt, zwei Richtungen gibt, wie man damit umgehen kann. Die eine Richtung geht von der sogenannten Ich-Perspektive aus. Das ist dann die eher performative Schule, die sagt, mich beschäftigt dies und jenes mit der Repräsentation, Identität, dem Culture War etc. – und das bringe ich aus meiner Ich-Perspektive auf die Bühne. Sei es, dass ich selber als Betroffener erzähle, sei es, dass ich mir Stellvertreter suche oder – wie bei She She Pop – ein Kollektiv, bei dem jeder seine Erfahrungen einbringt. Da wird die Realität, die Lebenswirklichkeit derjenigen, die im Raum anwesend sind, theatral inszeniert, und daraus entstehen dann Erkenntnismomente und Konflikte und Aha-Momente usw. Die andere Richtung ist die eher Brecht`sche Schiene, und die ist deutlich verschütteter und komplizierter, weil auch die Welt heute deutlich komplizierter geworden ist. Wir können unsere Welt nicht mehr mit dem historisch-dialektischen Materialismus entschlüsseln. Die ideologischen Selbstschutzmechanismen sind mittlerweile viel weiter in der Art, wie sie sich dagegen immunisieren, entlarvt, dargestellt und reflektiert zu werden. Diese Richtung Theater kommt nicht aus der Ich-Perspektive, sondern – so würde ich das als Systemtheoretiker formulieren – aus einer systemischen Perspektive. Das bedeutet zum Beispiel, nicht zu sagen, das Böse an der Deutschen Bank ist der Chef, denn das Böse an der Deutschen Bank ist das darin eingeschriebene System der Renditewirtschaft. Es geht also um systemische Zusammenhänge, und die sind, wie schon Brecht erkannte, wenn er schrieb, das Erdöl verweigere sich dem dritten Akt, unglaublich schwer darzustellen. Und was diese Richtung des Theaters anbelangt, hat man es momentan mit einer gewissen Ermüdung, um nicht zu sagen einem Abriss der Brechtschen Tradition zu tun.

Florian Malzacher: Den Widerspruch zwischen dem Einbringen-Wollen eigener, konkreter Lebensrealitäten, identity politics etc. gegenüber systemischem Denken und Arbeiten, den gibt es natürlich. Aber das ist eine Reibung, die sehr produktiv sein kann. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Eine der Arbeiten, die in den letzten Jahren viel diskutiert wurde, ist Anta Helena Reckes Inszenierung von „Mittelreich“, bei der sie eine existierende Inszenierung der Münchner Kammerspiele genommen und diese eins zu eins mit schwarzen Schauspieler:innen besetzt hat, im selben Bühnenbild, mit den exakt gleichen Regieanweisungen etc. Da wird auf systemischer Ebene extrem viel klar. Man denkt permanent darüber nach, was sich durch die Neubesetzung verschiebt – und warum man anders auf eine im tiefsten Bayern spielende Szene guckt, wenn sie von Schwarzen gespielt wird. Und es stellen sich auch konkrete Fragen zur Institution: Wieso gehört keiner der schwarzen Schauspieler:innen zum Ensemble der Münchner Kammerspiele?

Ich glaube, viele Diskurse, die heute leicht genervt als Politische-Correctness-Diskussionen abgetan werden, sind genau dazu da, um auf systemische Fragen zu verweisen. Es geht um ein provoziertes Stolpern: Ich darf bestimmte Dinge nicht sagen, okay, das nervt. Aber: Was bedeutet denn das? Ich kann genervt und beleidigt sein oder ich kann mich fragen: Warum soll ich denn das nicht mehr tun oder auch nur sagen? Was steckt dahinter? Wie können solche Schwierigkeiten produktiv werden? Und das ist doch auch eine künstlerische Strategie, ein solches Stottern, eine Irritation, zu erzeugen, das einen daran hindert, einfach so weiterzumachen wie zuvor. Es geht nicht um Verbote, sondern darum, seine eingelernte Rolle nicht einfach so runterspielen zu können. Da geht es eben nicht ums Anekdotische, sondern um Strukturen. Das kann sich an einer einzigen Diskussion über einen Schauspieler entzünden, der eine bestimmte Rolle eben nicht mehr spielen sollte, oder an einem Satz, den man nicht sagen sollte, oder einem Wort, das man nicht aussprechen sollte. Ich halte das für eine manchmal anstrengende, aber wichtige und auch produktive Irritation. All diese Schwierigkeiten, die gerade aufgebaut werden, haben ein künstlerisches Potenzial, und zwar im Theater viel mehr als in den anderen Künsten, weil wir immer gemeinsam da drin hocken. Ich sitze nicht vor einem Roman, einer Videoinstallation oder vor einem Gemälde. Ich sitze gemeinsam mit anderen Leuten da und muss das aushandeln, zunächst mit den Beteiligten auf den Proben, dann gemeinsam mit dem Publikum.

Bernd Stegemann: Ich stimme dir zu. Aber ich sehe genau diese, auf das Ich konzentrierte Theaterpraxis leider immer nur im Bereich der Identitätspolitik greifen, wenn es um Hautfarbe, Ethnie, geschlechtliche Zuordnung geht, um all das, was das Subjekt in der Selbst- und Fremdbeschreibung ausmacht, und die ganzen Widersprüche, die dabei entstehen können. Da funktioniert dieses Konzept, diese theatrale Kunst sehr wirkungsvoll, und ist manches Mal auch sehr komplexitätstauglich. Aber für all das, was materielle Widersprüche anbelangt, habe ich in meinem bisherigen Theaterleben noch keine überzeugenden Arbeiten aus dieser Theaterrichtung gesehen. Vielleicht hast du, Florian, auch dafür ein Beispiel? Nur weil es der Name „Mittelreich“ so nahelegt: Am Deutschen Theater in Berlin lief vor einiger Zeit das Stück „Das Himbeerreich“ von Andres Veiel, eine Koproduktion mit dem Schauspiel Stuttgart. Das Stück gibt sich als die ganz große Banker-Geschichte und ist für mich ein Paradebeispiel dafür, wie man die systemische Gewalt des Kapitals gerade nicht darstellen kann. Gute Schauspieler spielen dort in einem seltsam-eleganten Bühnenbild irgendwie das Elend von Bankern, die abgeschoben wurden, die ihre Karriere beendet haben, nun in einem kleinen dunklen Büro sitzen und jetzt keinen Fahrer mehr haben. Das Elend des Pensionisten-Bankers muss man zwei Stunden über sich ergehen lassen, das hat aber gar nichts mit dem Banken-Thema zu tun. Denn es findet gerade keine Kritik der Ich-Aussagen statt. Wenn denn schon die Tragödie eines gescheiterten Bankers gezeigt werden soll, dann doch lieber in einer dramatischen Konstruktion wie in Henrik Ibsens „John Gabriel Borkman“, wo man wenigstens etwas über den Menschen erfährt und seine gescheiterte Hybris, mit Kapital die Welt betrügen zu wollen. Wenn ich jedoch die ganze Zeit nur diese Oberflächen-Selbstbeschreibung von geschassten Bankern im Ulrich Matthes-Sound vorgetragen bekomme, dann habe ich gar nichts davon. Dann sind die Sätze und Geschichten nur Boulevardnachrichten in live.

Florian Malzacher: Aber der Punkt ist doch: Was produziert das in mir? Ich bin provoziert. Ich als mittelalter weißer Mann denke: So, jetzt darf ich das also nicht mehr tun, ich darf das liebgewonnene Kinderbuch nicht mehr vorlesen, ich darf die Rolle nicht mehr spielen, etc. Dasselbe geschieht, wenn Greta Thunberg sagt, jetzt darfst du nicht mehr fliegen, jetzt darfst du nicht mehr dies und das tun. Statt ein Stück über Banker zu machen, die dann vielleicht im Theater sitzen und sich darüber amüsieren (wenn sie überhaupt kommen), muss der eigene neuralgische Punkt getroffen werden, beispielswiese über die Frage: Wie muss ich denn eigentlich leben, damit diese Welt überleben kann? Das wäre eine Aufgabe für das Theater, diese neuralgischen Punkte zu treffen. Dann kann plötzlich ein Moment der Aktivierung entstehen.

Christine Wahl: Apropos Moment der Aktivierung: Ich glaube, das ist ein guter Zeitpunkt, um die Diskussion ins Publikum zu öffnen.

Publikum: Die Beispiele, die ich jetzt gehört habe, verweisen eigentlich alle darauf, dass das Theater immerzu Individuen anspricht. Das heißt es gibt individuelle Reaktionen, die im Echoraum des Theaters erfolgen, und wenn das dann abgeklungen ist, dann ist es auch erledigt. Das Theater oder die ästhetischen Aktionen übernehmen im Grunde Tendenzen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ästhetisieren sie auf eine Weise, dass das Publikum entweder dran hängt oder sich langweilt. Aber es hat keine Wirkung über den Rahmen des Ereignisses Theater hinaus. Die Frage, die sich mir stellt, lautet: Welche Stücke von Brecht haben die Welt so verändert, dass man tatsächlich messen kann, dieses Stück und diese Inszenierung haben das und das bewirkt? Das ist ja wohl schwer möglich, oder?

Florian Malzacher: Ich glaube schon, dass es nicht nur um die Individuen geht, sondern auch dieses merkwürdige Kollektiv, das man im Theater temporär bildet und das modellhaft so etwas wie eine Minigesellschaft sein kann. Das wäre zumindest die Hoffnung. Aber was die Frage des Bewegens, des Hammers und des Was-kann-man-tun angeht: Auch das ist eine Frage des Maßstabs. Wie soll man messen, ob sich die Welt verändert? Wenn sich auf einen Schlag die ganze Welt verändern soll, dann ist die Latte natürlich ein bisschen hoch gehängt. Am Beispiel des österreichischen Kunst-Aktivismus-Kollektivs Wochenklausur, das ja auch im Rahmen der Brecht-Tage Thema ist, ließe sich antworten, dass es darum geht, im Konkreten, im Kleinen, Dinge zu verändern.

Das, was Wochenklausur macht, hat so tatsächlich einen messbaren Erfolg. Die Gruppe geht üblicherweise mit einem großen Pragmatismus an einzelne Probleme heran und hat einen Track-Record extrem erfolgreicher Interventionen. Ich sage nicht, dass dieses Modell das allgemeingültige ist, aber es zeigt, dass es verschiedene Größenordnung gibt, in denen man agieren kann. Oder nehmen wir Augusto Boal, der sich in mancherlei Hinsicht zu Recht als Brechtnachfolger sah. Sein „Theater der Unterdrückten“ und das „Invisible Theatre“ haben konkret messbare Wirkungen in bestimmten Communities gehabt, vor allem in Südamerika, aber auch in Afrika, bis heute. Das wäre ein weiteres Beispiel, an dem man tatsächlich einen direkten Erfolg messen könnte. Vor allem aber ist für mich Theater ein Labor, in dem man in einem kleineren Maßstab gemeinsam Dinge entwickeln und ausprobieren kann, die dann bestenfalls weitergetragen werden.

Publikum: Mir fallen als konkretes Beispiel die großen Demonstrationen zum Thema Mietenwahnsinn ein, die gerade stattfinden. Es gibt auf diesen Demonstrationen Performances, die ich auch als Theater bezeichnen würde, die dann dahin weiterführen, dass mehr Publikum geschaffen wird, das sich mehr engagiert, mehr interessiert, so dass dadurch auch bestimmte Veränderungen in die Wege geleitet werden. Und das ist ja in der letzten Zeit auch tatsächlich geschehen. Also würde in diesem Bereich auch wirklich sagen, dass das Theater da eine große Chance hat, weil extrem deutlich wird, ähnlich wie beim Klimawandel, dass sich etwas ändern muss. Und da sich in dem Bereich Umweltzerstörung, Klimawandel, und aber auch Mietenproblem das Bewusstsein extrem gesteigert hat, besteht gerade auch für das Theater, beispielsweise über Performances oder aber über größer angelegte Theateraktionen, die Chance, da auch etwas zu bewirken.

Bernd Stegemann: Ich würde das trotzdem unterscheiden. Es sind natürlich theatrale Mittel, die auf solchen Demonstrationen verwendet werden oder auch performative, also bunte Kostüme, Musik, Gespieltes, Getanztes, Gesungenes usw. Das sind alles Aufmerksamkeit stiftende Mittel, Identität stiftende Mittel, Gemeinsamkeit herstellende Mittel, die natürlich alle zum Basisvokabular des Theaters gehören. Aber trotzdem würde ich sagen – zumal wir ja aus der Warte der Theaterkunst sprechen –, dass die Kunst des Theaters etwas anderes ist. Gerade auch der abgeschlossener Raum ist dafür von Bedeutung. Auch dieses Gespräch findet ja im geschlossenen Raum statt. Wenn wir dieselbe Veranstaltung draußen, auf der Straße machen würden, wäre es eine ganz andere Situation. Wir würden andere Dinge besprechen. Bestimmte Dinge könnten auch nicht besprochen werden, weil sie die Ruhe und die gemeinsame Verabredung voraussetzen, dass beispielsweise immer nur einer redet und nicht alle durcheinander sprechen. Das sind ganz viele Techniken, die wir brauchen, um eine bestimmte Komplexität der Kommunikation überhaupt herstellen zu können. Und die braucht auch das Theater, etwa schon in der Antike das Ritual, dass man sich nur zu den Dionysien im Dionysos-Theater vereint und da als Stadtbevölkerung gemeinsam den ganzen Tag verbringt. Solche Verabredungen sind ein ganz entscheidender Punkt, damit überhaupt eine bestimmte Höhe der Reflexion entstehen kann. Ich möchte auch noch auf die vorausgegangen Bemerkung zur Messbarkeit der Theaterwirkung eingehen. So instrumentell kann man das natürlich nicht diskutieren.

Es gibt den berühmten Fall in der Theatergeschichte, eine Opernaufführungen Brüssel in deren Anschluss die Leute aus dem Theater rausmarschiert sind und die Belgische Revolution ausgelöst haben. Aber das ist natürlich ein einmaliges Ereignis, so unmittelbar ist die Wirkung von Theater nicht. Wenn man in die Theatergeschichte zurückschaut, so hat beispielsweise die griechische Tragödie, indem sie sinnlich und intellektuell vorgeführt hat, wie Menschen durch die Art, wie sie miteinander Konflikte führen, zwangsläufig eine tragische, nämlich ausweglose Mechanik in Gang setzen, das Denken des Abendlands extrem geprägt. Dadurch wurde ein Bewusstsein befördert, dass Menschen durch eigenes gutes Wollen trotzdem eine tragische und damit schlimme, meist tödliche Situation herstellen können. Dieser Gedanke und dieser weltanschaulich zentrale Punkt sind durch die antike Tragödie vor zweieinhalbtausend Jahren in die Welt gekommen. Was wir unter Politik und Gesellschaft verstehen, ist in diesen Gedanken aufgehoben und in die Welt gebracht worden und durch Theateraufführungen zu einem allgemeinen Bewusstsein gemacht worden – mit weitreichenden Konsequenzen. Für Shakespeare lässt es sich ähnlich formulieren. Selbst wenn längst nicht alle „Hamlet“ gesehen haben, gilt die Hamlet-Figur trotzdem bei den allermeisten Menschen, im Bildungsbürgertum zumindest, als ein intellektueller Paradefall, demgemäß man durch zu viele falsche Fragen mehr Probleme produzieren als man lösen kann. Das sind emotional-intellektuelle Komplexe, die das Theater überhaupt erst in die Welt gebracht hat, also erfunden und dann so kommuniziert hat, dass es bei den Menschen wirkungsvoll angekommen ist. In dieser Hinsicht hat das Theater eine sehr weitreichende Wirkung. Aber es lässt sich natürlich nicht sagen, da hat es die eine Inszenierung gegeben und dann ist das und das passiert.

Publikum: Vorhin fiel die Äußerung, dass die Klimakrise kein Problem wäre, das sofort auf Klassenpolitik verweist. Und das Gleiche ist passiert, als es um antirassistische Interventionen im Theater ging. Aber das sind natürlich beides Klassenfragen! Das ist eine künstliche Teilung, die immer wieder zwischen Identitätspolitik und Klassenpolitik aufgemacht wird. Das Problem ist doch genau das, was Sie im Falle von „Mittelreich“ beschrieben haben, dass schwarze Menschen am Theater keine festen Jobs haben, sondern quasi die hyperprekarisierten sind, die sich außerhalb der festen Ensembles finden. Genau das ist ja ein systemischer Zusammenhang. Und dass uns das als klassenferne Frage vorkommt, in dem Sinne, dass schwarze Menschen nur ihre eigene Identitätspolitik betreiben, ist ein gravierendes Missverständnis oder auch eine Spaltung, die der Kapitalismus in die Gesellschaft trägt. Anders gesagt: Es ist nicht so, dass es nicht klassenpolitisch ist bzw. auf Klassenpolitik reagiert. Sondern das Problem liegt bei den Menschen, die es nicht als Klassenpolitik wahrnehmen können. Das gleiche gilt für die Umweltbewegung oder Fridays for Future. Natürlich ist das ein Klassenproblem. Die Menschen – etwa die Käufer von vermeintlich sauberen SUVs – denken, sie könnten sich mit Geld gegen den Klimawandel schützen und gegen die Katastrophe einpanzern oder – eine andere, ähnliche Idee – ins All emigrieren. Also, diese Trennung zwischen Identitäts- und Umweltpolitik und Klassenfragen, da würde ich mich sehr gegen wehren. Dann kommt man, glaube ich, auch von dem Man-kann-da-nichts-machen-Denken weg. Weil dann nämlich sichtbar wird, dass ganz viele Menschen an ganz vielen Stellen die ganze Zeit kämpfen und was machen.

Florian Malzacher: Ja, ich halte den Widerspruch zwischen Identitätspolitik und Klassenbewusstsein bzw. Klassenpolitik für bewusst politisch konstruiert. Das eine gegen das andere auszuspielen ist nicht nur schäbig, sondern auch politisch unklug. Chantal Mouffe und Ernesto Laclau haben von der „chain of equivalence“ zwischen verschiedenen demokratischen Forderungen gesprochen. Die Forderungen der Arbeiterklasse – die ja heute auch nicht ganz einfach zu definieren ist – müssen zusammen mit anderen Forderungen artikuliert werden: Umwelt, Feminismus, Antirassimus, LGBTQ+ etc. Zu oft wurden andere Bedürfnisse als Nebenwidersprüche abgetan, die sich dann schon auflösen würden, wenn erst der Hauptwiderspruch beseitigt wäre. Aber natürlich ist es auch ein großer Fehler, Klassenpolitik zu ignorieren – zumal sie ja mit vielen anderen Problemen überlappt.

Publikum: Aber es ging, so habe ich den Einwurf verstanden, auch gar nicht um Haupt- und Nebenwiderspruch. Das ist die falsche Konstruktion. Es ging darum, Widersprüche in der Gesellschaft, die ökonomisch bedingt sind, die kulturell bedingt sind, ästhetisch bedingt sind, politisch bedingt sind – weil der Staat ist ja nicht unentschieden –, im Zusammenhang zu betrachten. Insofern müsste man – ich weiß nicht, inwiefern man das Modell als Modell nimmt – ein Rhizom, ein Netz von Widersprüchen sehen, wobei es nicht wichtige und unwichtigere gibt. Punktuell schon. Wenn die Arbeiter entlassen werden, dann ist der ökonomische Widerspruch wichtiger. Wenn Frauen oder Schwarze oder Transgender diskriminiert werden, dann ist dieser Widerspruch in dem Moment wichtiger. Man müsste versuchen, eine Verbindung, ein Netz von gesellschaftlichen Widersprüchen festzustellen, die sich aber eigentlich immer auf kapitalistische Produktionsweise beziehen. In diesem Sinne bin ich auch mit dem Systembegriff, wie er in der Diskussion verwendet wurde, nicht ganz einverstanden. Wenn Sie sagen, Produktionsweise und Produktionsverhältnisse, das ist ein alter Hut, das können wir vergessen, also die Marxsche Analyse, die materialistische, dann würde ich entgegnen, dass die Luhmannsche Analyse, das Systemische, mindestens genauso überholt ist. Also Brecht hat sehr schön gezeigt, dass bei einer Bank natürlich nicht der böse Bankdirektor das Entscheidende ist, sondern die Struktur der Bank, und dass dahinter bestimmte Interessen stehen und so weiter.

Bernd Stegemann: Brecht hat auch den wunderbaren Satz gesagt: der Kapitalist beutet nicht zu allen Zeiten mit denselben Mitteln aus. Das ist es, auf das ich abzielen wollte. Im Neoliberalismus finden ganz andere Arten von Renditewirtschaft statt als sie sich Brecht vorstellen konnte. Das Problem mit den Klassen- und den identitätspolitischen Konflikten und noch sehr vielen anderen Bruchlinien ist: Die sind ja entstanden – Nancy Fraser folgend – als eine bestimmte Strategie des Kapitals. Der Neoliberalismus hat es geschafft, dass die Konflikte sich gegenseitig das Leben schwer machen und damit das Kapital aus der Schusslinie genommen hat. Seitdem werden immer diese Konflikte gegeneinander ausgespielt und damit wird die Atomisierung der Menschen und der Solidargemeinschaften immer weiter betrieben. Und ich stimme völlig zu: Das große politische Ziel muss natürlich sein, sich nicht immer wieder davon ins Bockshorn jagen zu lassen und sich gegeneinander ausspielen zu lassen, sondern zu begreifen, dass es mehr Gemeinsamkeiten gibt als Widersprüche. Die Spaltung von eigentlich gemeinsamen Interessen ist in der politischen Wirklichkeit ein dauerndes Problem. Man kann das an den Klimaprotesten an zwei Beispielen wunderbar klarmachen. Selbstverständlich – erster Klassenwiderspruch – sind die Schüler, die bei Fridays for Future demonstrieren, überwiegend Gymnasiasten, die aus dem gehobenen Bürgertum kommen. Es sind nicht die Berufsschüler, es sind nicht die Hauptschüler, es sind nicht die Jugendlichen aus prekären Verhältnissen. Zweiter Klassenwiderspruch: Die Gelbwesten in Frankreich. Die Gelbwesten sind die, die gegen sogenannte ökologische Gesetze der Macron-Regierung, nämlich Erhöhung der Spritpreise aufgrund von ökologischen Gründen, massiv protestiert haben mit dem wunderbaren Satz: Ihr redet immer vom Ende der Welt; wir haben ein Problem, mit unseren Einkommen bis zum Ende des Monats zu kommen, und darum wollen wir das nicht. Das sind diese vielen Binnenwidersprüche, mit denen wir umgehen müssen.

Florian Malzacher: Dann, glaube ich, ist man letztlich doch wieder beim Haupt- und Nebenwiderspruch. Identitätspolitische Konzepte sind ja entstanden, weil bestimmte Leute genug davon hatten, dass man sagt: Eure Probleme werden sich früher oder später schon von alleine auflösen. Der „strategische Essentialismus“ ist ja nun mal eine Strategie, keine Glaubensrichtung. Es geht darum, spezifische Bedürfnisse, die sich nicht mal schnell verallgemeinern lassen, sichtbar zu machen. Ja, es gibt die Gefahr der Zersplitterung – aber das Problem ist, dass über Jahrzehnte, fast Jahrhunderte, mit dem Argument der Fragmentierung alle spezifischen Bedürfnisse auf eine ferne Zukunft verschoben wurden – und zwar in der Regel von denen, die davon nicht direkt betroffen waren. Und jetzt zu sagen, das Beharren darauf, dass die eigenen Rechte anerkannt werden, ist doch einfach nur ein Produkt des Neoliberalismus, ist perfide. Und dennoch, ja, die Fragmentierung ist ein Problem. Aber das kann man nur lösen, wenn man erstmal das Recht auf die einzelnen Kämpfe anerkennt und sie nicht einfach abtut.

Bernd Stegemann: Ich habe sie nicht abgetan. Ich habe nur gesagt, dass es sich wie immer dialektisch verhält: Es gibt die große Gefahr, das Bedingungsgefüge des Neoliberalismus zu übersehen. Denn Identitätspolitik findet nicht in einem herrschaftsfreien Raum statt, sondern innerhalb eines Herrschaftsdiskurses. Und innerhalb dessen gibt es ein Interesse des Kapitals an den Binnenkonflikten und darum eine Instrumentalisierung der identitätspolitischen Bruchlinien. Und darüber muss man dann schon reden.

Christine Wahl: Auch, wenn viele aufgeworfene Fragen in der Kürze der Zeit naturgemäß nicht ausdiskutiert werden konnten, ist zumindest abschließend nochmals deutlich geworden, wie stark verschiedene künstlerische Formen oder Strategien mit unterschiedlichen politischen Analysen und Gewichtungen ineinandergreifen. Wir müssen an dieser Stelle einen Schlusspunkt setzen: Ich danke Ihnen für die Diskussion!