Theater als Versammlung

von Florian Malzacher

In: New Societies. Hg. donaufestival. Wien: Falter Verlag, 2019. 78-90.


Gerichtsverhandlungen um Kunstfreiheit, Religion und Zensur, Gipfeltreffen, auf denen um Klimaziele oder Kulturpolitik gerungen wird, Parlamente, in denen jene reden, die sonst nicht zu Wort kommen… das Theater ist in den letzten Jahren zum Schauplatz zahlreicher gesellschaftlicher Versammlungen auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Wirklichkeit geworden, zu einer demokratischen Arena, die nicht von Schauspielern bespielt wird und doch einen Raum der Fantasie und Vorstellungskraft markiert, der anderswo so nicht existiert. Indem es seinen unique sellling point als ein Medium nutzt, das temporäre Gemeinschaften erzeugen kann, die durch Raum, Zeit und wechselnde Regeln definiert werden, spiegelt dieses Theater Gesellschaft nicht nur, sondern ermöglicht es, soziale und politische Verfahrensweisen auszuprobieren, zu analysieren, zu performen, darzustellen, zu testen, zu strapazieren oder gar neu zu erfinden.

Die Versammlung (assembly), in der Bedeutung wie beispielsweise Occupy Wall Street den Namen verwendet hat, spielt vor allem bei aktivistischen Bewegungen in anarchistischer Tradition eine zentrale Rolle. Sie markiert einen Bereich des Zusammenkommens, der Gemeinschaftsbildung, des Entscheidens und des Experimentierens damit, wie Demokratie funktionieren kann. Solche Versammlungen haben nicht nur eine eigene theatralische Ästhetik (wie den markanten Einsatz von Handzeichen oder, bei großen Zusammentreffen, des human microphone), sie leben von körperlicher Präsenz, wie Judith Butler in ihrer Rede bei Occupy Wall Street (2011) hervorhob:

It matters that as bodies we arrive together in public. As bodies we suffer, we require food and shelter, and as bodies we require one another in dependency and desire. So this is a politics of the public body, the requirements of the body, its movement and its voice. […] We sit and stand and move as the popular will, the one that electoral politics has forgotten and abandoned. But we are here, time and again, persisting, imagining the phrase, ‘we the people’.

So sehr diese Beschreibung auch ein wesentliches Motiv vieler künstlerischer Versammlungen trifft, gibt es doch einen bedeutsamen Unterschied: Die aktivistische Versammlung wird meist als ein Ort der authentischen Verhandlung verstanden, ein Ort, an dem etablierte Hierarchien abgeschafft sind, an dem eine andere Art der Entscheidungsfindung nicht nur ausprobiert sondern wahrhaftig gelebt wird. So sehr Theater als Versammlung mit diesen Vorstellungen sympathisieren mag, seine Stärke ist gerade, dem Authentischen zu misstrauen, oder genauer: gleichzeitig authentisch und nicht-authentisch zu sein. Denn Theater ist nicht nur soziale, sondern immer auch eine selbstreflexive Praxis. Es ist eine paradoxe Maschine, in der Situationen und Praktiken real und fiktional, tatsächlich und symbolisch zugleich sind. Die sozialen Räume, die Versammlungen, die es erfindet, ermöglichen, Teil zu haben – und sich gleichzeitig von außen zu beobachten.

Die Arten und Weisen, in denen sich Theater als ein öffentlicher Raum entwirft, der radikale Vorstellungskraft ebenso wie pragmatische Utopien ermöglicht, sind vielfältig und widersprechen sich nicht selten sowohl in ihren ästhetischen als auch in ihren politischen Positionen. Was aber die meisten verbindet, ist ihr Anliegen, das Feld des Theaters zu erweitern, seine Mittel und Möglichkeiten herauszufordern und Wege zu finden, sich mit den sozialen und politischen Themen unserer Zeit so auseinanderzusetzen, dass politisches Denken und Handeln auch jenseits der Kunst davon inspiriert werden kann.

Das Projekt Building Conversation (seit 2014) der niederländischen Theaterregisseurin Lotte van den Berg zielt darauf, Theater auf seinen Wesenskern zu reduzieren. Für sie ist Theater vor allem ein Ort der Kommunikation, eine Sphäre in der man sich trifft, in der Konflikte aufgezeigt und erfahren werden können. Eine Vereinbarung zum Austausch nach bestimmten Regeln, die sich je nach Anlass unterscheiden können.

Und tatsächlich ist Building Conversation genau das: Miteinander reden. Inspiriert von Gesprächstechniken aus aller Welt wurden Modelle und Rahmen für Dialoge entwickelt, bei denen es keine SchauspielerInnen, kein Publikum gibt; nur die Einladung, beispielsweise an einer von Inuit-Versammlungen inspirierten Konversation ohne Worte teilzunehmen oder an einem von Jesuiten entwickelten Wechsel zwischen Reflexion, Rückzug und Dialog. Was diese Gespräche zu Theater macht, ist nichts anderes als die Verabredung, sie als Theater zu verstehen, das uns ermöglicht, engagiert zu sein und gleichzeitig analytische Distanz zu wahren. Manchmal braucht es nicht mehr als ein paar präzise Entscheidungen, Gesten, Regeln um einen Bereich der Kunst zu markieren und ein weites Feld möglicher Erfahrung zu öffnen.