Ein Künstler, der nicht Englisch spricht, ist kein Künstler

10 Jahre Postdramatisches Theater
von Florian Malzacher

In: Theater Heute. 10 (2008): 8-13.


Weit entfernt in der Dämmerung tapern Figuren übers brache Land, kommen zueinander und verlassen sich, kaum erkennbar erschlägt da wer wen, andere haben Sex (sieht nicht einvernehmlich aus), hier und da meint man, den Faden einer brutalen, aber völlig stummen Geschichte in die Hand zu bekommen, greift daneben oder hält ihn kurz, bevor er durch die Finger rutscht … Safariblick des Publikums unter freiem Himmel auf die natürliche Bühne eines künftigen Industriegeländes irgendwo am Rande von Antwerpen: Nach und nach stürzen die Figuren in eine Grube, werden zu Erde, verschwinden im Bild. Ein leichter Herbstregen lässt den Zuschauer frösteln, während er das Drama sich auflösen sieht.

Selbstverständliche Skepsis

Wo fängt das Drama an, wo hört es auf? Für die Freiluft-Inszenierung «Braakland» der jungen holländischen Regisseurin Lotte van den Berg ist die Prosa J. M. Coetzees zwar ein Ausgangspunkt, aber viel mehr als Motive und etwas Atmosphäre ist davon nicht geblieben. Kein Wort, keine klar benennbare Geschichte. Immer wieder begibt sich van den Berg mit ihren Arbeiten auf das diffuse Grenzland des Genres Theater. Schauspielerisches Agieren, Sprache, Narration reduziert sie auf ein Minimum – und schaut dabei doch in eine andere Richtung als noch die Generationen vor ihr, die sich vom Drama erstmal befreien mussten. Derzeit kehren etliche junge freie Theatermacher zurück an die Grenzen, die längst überschritten sind, und überqueren sie aus entgegengesetzter Richtung für kurze Exkursionen. Das Misstrauen gegenüber dem Repräsentationssystem des Dramas haben sie verinnerlicht; aber dieses Misstrauen braucht keine Kampfansage mehr, keine Provokation, keine Demonstration. Es ist selbstverständlich geworden.

So ist in den letzten Jahren im nicht-dramatischen Theater eine skeptische Sympathie für die Ränder des Dramatischen entstanden, die grundlegende Zweifel aber eher betont als vergisst: Wie viel Narration erträgt das Theater noch, an wie viel Kausalpsychologie können wir noch glauben, wo wir doch seit über hundert Jahren lernen, dass wir nicht die Herren im eigenen Haus der Psyche sind?  Und wo das Kino doch ohnehin viel besser ist im Behaupten großer Geschichten – weil es perfekter lügen kann als das Theater, das bei aller Technik immer durchschaubar bleibt: viel mehr Medium zum Denken als zum Glauben.

Das Misstrauen gegenüber dem dramatischen Theater gilt nach wie vor in erster Linie dem „Als ob“ des konventionellen theatralen Paktes (also der Bereitschaft, dem Schauspieler seinen Hamlet für die Dauer des Abends zu glauben oder zumindest als Denkkonstrukt zuzulassen): Die Repräsentationskritik, vor allem des psychoanalytisch geprägten französischen Poststrukturalismus, hat zwangsläufig auch die Repräsentationsmaschine des Theaters problematisiert. Als Reaktion darauf entstanden Bühnenformen, die nicht primär eine andere Wirklichkeit zeigen, sondern vor allem selbst eine Wirklichkeit sein wollen und dafür eine eigene, nicht unbedingt verbale Sprache entwickeln. So zerfließen die Grenzen zwischen Schauspiel und Performance, zwischen Repräsentation und Präsentation. Im Mittelpunkt solcher Auseinandersetzungen stehen zwangsläufig der dramatische Text und der Rollen spielende Schauspieler.

Es geht auch mit Text: das Nature Theater of Oklahoma

Dabei ist nicht-dramatisches Theater keineswegs notwendig ein Theater ohne Text und ohne Schauspieler: Die New Yorker Off-Off-Broadway-Truppe des Nature Theater of Oklahoma ist derzeit auch deshalb bei einem breiten Publikum so beliebt, weil hier Leute mit solider Theaterausbildung auf der Bühne stehen. Die sprechen, dass man sie bis in die letzte Reihe versteht, die tanzen und singen und spielen, dass es landläufige Qualitätskriterien erfüllt. Mit etwas Offenheit kann man erkennen, dass das schlecht Geschauspielerte hier gerade deshalb so kunstvoll ist, weil die Truppe ihr Handwerk beherrscht und doch etwas wagt, das über Könnerschaft und Dekor-Trash, wie er längst zum Inszenierungsrepertoire des Regietheaters gehört, hinausgeht.

Denn hinter der klamaukigen Fassade steht der dreieinhalbstündige Theaterabend No Dice zwar sehr eigenwillig, aber doch mit beiden Füßen in der Tradition epischen Geschichtenerzählens. Der zuweilen schwer greifbare narrative Strang basiert auf über einhundert Stunden aufgezeichneter Telefongespräche der Akteure, die im Gespräch mit Freunden, Verwandten und Kollegen letzten Fragen von Kunst, Religion und Arbeit ebenso auf den Grund gehen wie ganz persönlichen Sorgen: „Sollte ich vielleicht weniger trinken?“, „Werde ich gefeuert?“ und „Wie kommen wir an das große Hollywood-Geld?“. Das Textmaterial, das die Performer über Kopfhörer zugespielt bekommen, wird dabei mit Dialogen eines Amateur-Dinnertheaters kontrastiert. Zwischen geradezu transzendenten Höhen und ziemlich albernen Abgründen entsteht so ein durchaus literarischer Text, den man in seinem künstlichen Realismus auch fast in der Nachfolge des Naturalismus sehen könnte. Mit einem wesentlichen Unterschied: Die Geschichten des Nature Theater behaupten keine geschlossene Wirklichkeit.

Gisèle Viennes Spiel mit Imagination und Wirklichkeit

Auch die junge französische Regisseurin Gisèle Vienne arbeitet in Jerk mit einem Text: Ein fahler junger Mann mit Emo-Frisur (Jonathan Capdevielle) – nicht unsympathisch, aber eindeutig Typ Schwere Jugend – hockt zum Greifen nah auf einem Stuhl und erzählt, anfangs unsicher und verlegen, als würde er es selbst nicht glauben, von sexuell aufgeladenen Gewaltverbrechen, an denen er als Teenager beteiligt war. Eine imaginierte Rekonstruktion der tatsächlichen Verbrechen eines Serienkillers, der mit der Hilfe zweier Kids in den siebziger Jahren in Texas mehr als zwanzig Jungen zu Tode folterte. Eine Geschichte, die auf Fakten basiert und doch nicht wahr zu sein scheint.

Weil das eigentlich gar nicht zu erzählen ist, spielt der junge Mann es vor mit Puppen oder lässt die Zuschauer minutenlang still in verteilten Textbüchern weiterlesen. So zwingt er das nicht Vorstellbare in die einsame Vorstellung jedes Einzelnen. Am Ende liegen die Puppen reglos vor seinen Füßen. Ebenso reglos spricht er den letzten Monolog ohne jede Mundbewegung. Gisèle Viennes Theater – das sie zur Zeit gemeinsam mit dem umstrittenen White-Trash-Autor Dennis Cooper entwickelt – spielt virtuos und radikal mit den Grenzen der Möglichkeiten theatraler Repräsentation, jongliert mit den Rezeptionen und lässt den Horror der Fantasie und den Horror der Wirklichkeit ununterscheidbar werden.

Text als Summe der Theaterzeichen

Doch anders als in Jerk und No Dice ist Text im nicht-dramatischen Theater meist nicht vorgängig. Er wird entwickelt im Prozess, hat mal zu folgen, mal schubst er an. Und meint ohnehin mehr als nur das geschriebene oder gesprochene Wort, das eben nicht isolierbar ist von dem, was es umgibt. Text wird definiert als die Summe aller Theaterzeichen: Körper (ihre physische Eigenart, ihre Bewegung, ihre Stimme, ihre psychische und soziale Konnotation), Raum, Licht, Ton. Jede Gewichtung ist möglich. Und jeder dieser Ausgangspunkte eröffnet wiederum weitere künstlerische Optionen. Auch deshalb waren viele Arbeiten vor allem der 90er Jahre in ihrem Wesen selbstreferenziell: Erst einmal muss man sich vergewissern, was die Fragen sind, bevor man sich ans Antworten machen kann.

Inzwischen steht diese Selbstbeschäftigung weniger im Vordergrund – aber das Bewusstsein um die Bedingungen des eigenen Mediums ist eines der wichtigsten Merkmale avancierten nicht-dramatischen Theaters geblieben: René Polleschs Stücke handeln oft vom hierarchischen Theater-Apparat und dem neoliberalen Kulturmarkt, in dem sie entstehen (z.B. Hallo Hotel), Rimini Protokolls Dramaturgien sind wesentlich von den Bedürfnissen ihrer Performer bestimmt, Forced Entertainments Arbeiten handeln fast immer auch vom Verhältnis zwischen Zuschauerraum und Bühne, die slowenisch-kroatisch-serbische Gruppe Via Negativa beginnt Viva Verdi mit einer ironischen Anklage des Regisseurs darüber, wie das Eurokaz-Festival in Zagreb mit dem Produktionsauftrag auch den Inhalt bestimmt habe, Jérôme Bel ließ sich von seinem Kollegen Xavier Le Roy eine Choreografie in seinem Sinne schreiben, die er als seine eigene signierte – und in Xavier Le Roys Projekt ist die Sichtbarmachung von Arbeitsstrukturen der ganze Inhalt: Die Performer spielen drei Ballspiele gleichzeitig in drei verschiedenen Mannschaften; und wer noch in einem Spiel Verbündeter ist, ist im anderen schon der Gegner.