Vom Möglichkeitssinn erinnert an die historischen Revolution in vielfältiger Hinsicht: Mal konkret, mal über Umwege, mal nur noch mit losem Bezug. Immer aber geht es darum, den Möglichkeitssinn zu aktivieren und die historische Folie zu nutzen, um zu schauen, was unsere Gegenwart an utopischem Potential noch birgt.
Die Choreographin Alexandra Pirici untersucht in Delicate Instruments of Engagement vor den avantgardistischen Gemälden und Skulpturen des Russischen Museums mit performativen Aktionen das historische Verhältnis von Kunst und Politik, während die deutsche Theatergruppe andCompany&Co. – erstmals in Russland zu sehen – in Mausoleum Buffo: Lennongrad revisited die Geschichte mit Hilfe der Kunst einfach gleich ganz neu schreibt: Beatles treffen auf Bolschewiken… Der niederländische Komponist, Musiker und Performer Thomas Myrmel wiederum nutzt die Interpretation des deutschen Dramatikers Heiner Müller von John Reeds legendärem Revolutionstagebuch Zehn Tage, die die Welt erschütterten. Doch seine Konzertperformance Re-Fe-Re setzt dabei einen deutlich anderen Fokus und rückt die Rolle von Frauen auf verschiedenen Seiten des Kampfes in den Mittelpunkt. Die St. Petersburger Künstlerin Olga Jitlina nutzt für Apartment N44 die ehemalige Wohnung der Dichterin Anna Achmatowa und ihres Mannes, dem einflussreichen Kunstkritiker und Kurator Alexander Punin, als Resonanzraum: Was ist geblieben von den großen Würfen der Avantgarde? Das junge Künstlerkollektiv Wokrug da Okolo widmet seinen Audiowalk Red Noise einem Distrikt, der damals wie heute prekär ist: Zum zehnten Jahrestag der Revolution wurde der Bezirk Narvskaya Zastava in ein architektonisches Modellprojekt umgewandelt – und ist heute sowohl ein sozialer Brennpunkt wie ein eindrucksvolles konstruktivistisches Architekturprojekt. Andere Arbeiten, wie der raffiniert-vielschichtige Monolog How to win friends & influence people des Schweizer Theatermachers Boris Nikitin spielen ihre Bezüge zum historischen Jubiläum über Bande: Die Frage nach Glauben, Verneinung und der Selbstoptimierung des neuen Menschen sucht er in der biblischen Legende vom zweifelnden Thomas – während Keti Chukhrovs dramatisches Gedicht Afghan-Kuzminki, inszeniert von Pavel Arseniev, zeigt, wie aus den utopischen Beziehungskonzepten der 1920er-Jahre neoliberale Geschlechterkämpfe geworden sind.
Vom Möglichkeitssinn dockt an konkrete Orte St. Petersburger Geschichte an: Von den Bildern des Konstruktivismus und Suprematismus im Russischen Museum und der ehemaligen Wohnung der Dichterin Anna Achmatowa über eine Kirche, die konstruktivistisch zum Kulturzentrum für Post-Arbeiter umgebaut wurde, bis hin zum Stadtteil Narvskaya Zastava mit seiner beeindruckenden „Straße der Traktoren“ oder dem Kleidermarkt Apraxin mit seinen undurchschaubaren Machtstrukturen, dessen Geschichte bis lang vor die Revolution reicht.
Als roter Faden zieht sich dabei die Frage nach der Rolle von Frauen in jenen Jahren durchs Programm, einer Zeit in der viele grundlegende Forderungen nicht nur gestellt, sondern (zumindest theoretisch) auch erfüllt wurden. Vom Möglichkeitssinn ermöglicht Begegnungen mit so gegensätzlichen Protagonistinnen wie der Avantgarde-Malerin Natalija Gontcharowa, der eher avantgarde-kritischen Poetin Anna Achmatowa oder der problematischen Figur von Maria Bochkareva, die mit ihrem Frauen-Bataillon den Zaren verteidigte. Daneben finden sich Frauen, wie die Näherin in Narvskaya Zastava, die sich in keinem Geschichtsbuch finden – oder die fiktive Aktivistin Angie O. im Theaterstück von andCompany&Co. findet. Die Forderung nach wahrer Gleichberechtigung, die in den frühen 1920er-Jahren des letzten Jahrhunderts in vielen Ländern greifbar nahe schien – sie ist noch immer eine Utopie.
Ein Projekt des Access Point Festivals & des Goethe Instituts St. Petersburg