Lola Arias. Identitäten in Verhandlung

von Florian Malzacher

In: Ruiniert Euch! Literatur, Theater, Engagement. Hg. Christiane Lembert-Dobler u.a. Fürth: starfruit publications, 2021. 261-273.


„Was gibt mir das Recht, hier zu stehen und für all jene zu sprechen, die in diesen Krieg gezogen sind? Und wo sind die toten britischen Soldaten in diesem verdammten Stück?“ Gegen Ende von Campo Minado / Minefield (2016) stellt der englische Falkland-Veteran David Jackson die ethisch, aber auch ästhetisch entscheidende Repräsentationsfrage und zielt damit auf ein Kerninteresse der argentinischen Regisseurin, Autorin und Performerin Lola Arias, in deren dokumentarischen Theaterarbeiten oft Laien auftreten, die – zumindest auf den ersten Blick – „sich selbst“ zu spielen scheinen.

Alle am Theater Beteiligten – ob Schauspieler*innen, Performer*innen, Zuschauer*innen oder Kritiker*innen – werden immer auch als Repräsentant*innen einer größeren Gemeinschaft wahrgenommen, unterschieden durch Hautfarbe, Gender, Körperlichkeit, soziale Schicht, Berufsstand …

So spiegeln sich die Fragen, die gegenwärtig alle Demokratien verfolgen – Wer wird auf welche Weise, von wem und mit welchem Recht repräsentiert? – im Theater wider: Kann eine bürgerliche Schauspielerin eine Geflüchtete darstellen? Kann der Westen den globalen Süden stellvertreten? Kann ein Mann eine Frau verkörpern? Oder eben: Kann ein überlebender Soldat für einen toten Soldaten sprechen?

Dieses Problem-Geflecht, das durch gegenwärtige Diskussionen rund um Blackfacing (das Schwarzschminken weißer Schauspieler*innen), das Verwenden als diffamierend empfundener Bezeichnungen etc. unübersehbar wurde, stellt weit mehr in Frage als nur das Recht und die Befähigung weißer Schauspieler*innen, Charaktere of colour auf die Bühne zu bringen.

Es sind politisch und künstlerisch komplexe Herausforderungen, die – wie der gesamte postkoloniale Themenbereich – im deutschen Theater spät angekommen sind und die aktuellen Debatten über politische Korrektheit und vermeintliche Cancel Culture überdauern und das Theater für eine lange Zeit beschäftigen werden. In ihnen hallen grundlegende Auseinandersetzungen über demokratische Repräsentation wider.

Im Mittelalter war die Sache noch relativ klar. Der König hat zwei Körper: einen natürlichen, menschlichen, sterblichen – und einen symbolischen, kollektiv-religiösen, der ewig währt.1 Der König ist tot, es lebe der König!

Im Absolutismus gab es dann nur noch einen Körper, der Monarch war identisch mit dem Staat – „L’état c’est moi“ – und brauchte keinen Gott mehr für seine Legitimation. Komplizierter wurde es, als die Revolutionen in Nordamerika und Frankreich plötzlich das Volk zum Souverän machten. Denn wo alle die Macht haben, kann kein Einzelner sie mehr verkörpern: Der Ort der Macht muss leer bleiben.2 Nicht nur, dass die politisch Herrschenden nun keine eigene Gewalt mehr haben – die Macht, die sie auf Zeit stellvertretend ausüben, gehört zudem einem immer heterogener werdenden Volk. Eine unmögliche Aufgabe: etwas zu repräsentieren, das nicht repräsentiert werden kann. So ist Demokratie nie etwas Festes, sie bleibt immer „im Kommen“, wie der Philosoph Jacques Derrida schreibt.3

Krisen der Repräsentation ziehen sich also zwangsläufig durch die Moderne – in der Politik, aber auch in der Kunst: Erst wollten sich Malerei und Skulptur nicht mehr auf die Aufgabe reiner Abbildung reduzieren lassen, dann brachte Marcel Duchamp mit dem Readymade Alltagsgegenstände ins Museum, die zunächst nichts anderes zu repräsentieren schienen als sich selbst.

Seit den 1960er-Jahren versuchten Performance Art und Happenings der Repräsentation zu entkommen, indem sie den Fokus ganz auf die Präsenz, die Gegenwärtigkeit der Situation legten, die sie selbst erzeugten. Und Institutional Critique richtete den Blick vor allem auf die strukturellen, organisatorischen und ökonomischen Bedingungen von Repräsentation.

  1. Vgl. Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Frankfurt/Main, 1990 (1957).
  2. Vgl. z. B. Claude Lefort: Die Frage der Demokratie; in: Ulrich Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/Main, 1990 (S.281–297).
  3. Jacques Derrida: Die unbedingte Universität, Frankfurt/Main, 2001 (S. 14)

Auch im Theater tobte der Kampf gegen hergebrachte Vorstellungen von Repräsentation mit Antonin Artaud und Bertolt Brecht als prominentesten Protagonisten auf gegensätzlichen Seiten: Während der eine dafür kämpfte, die Differenz zwischen Repräsentation und Repräsentiertem ganz aufzuheben und Kunst und Leben eins werden zu lassen, wollte der andere sie transformieren, transparent machen und zugleich jene einbeziehen, die künstlerisch wie politisch nicht ausreichend repräsentiert wurden. Dabei wird deutlich, dass Brechts Konzept des gestischen Spiels – also des verweisenden Zeigens – nicht nur ein ästhetisches ist: So wie in der Demokratie die Macht nicht mehr verkörpert, sondern zu einer Geste wird, die auf den eigentlichen Souverän verweist4, so soll immer erkennbar bleiben, dass die Stellvertretung von Bühnenfiguren durch Schauspieler*innen rein symbolisch ist.

Es ist ein Zeigegestus, der in der Demokratie wie im Theater zugleich auf die Unmöglichkeit der Repräsentation wie auch auf die Unmöglichkeit einer Nicht-Repräsentation verweist. Die beiden Bedeutungen, die Repräsentation im Deutschen hat – die des Darstellens und die des Stellvertretens –, sind nicht voneinander zu trennen.

  1. Vgl. Paula Diehl: Demokratische Repräsentation und ihre Krise, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66. Jahrgang, 40–42 / 2016, 4. Oktober 2016.