Kein Außen. Nirgends. Theaterkritikers Kampf um Kriterien und Distanz. Ach ja, und Geld.

von Florian Malzacher

In: Theater Heute. 03 (2006): 26-29.


Schließlich existiert die Kritik nur im Verhältnis zu etwas anderem als sie selbst: sie ist Instrument, Mittel zu einer Zukunft oder zu einer Wahrheit, die sie weder kennen noch sein wird, sie ist ein Blick auf einen Bereich, in dem sie als Polizei auftreten will, nicht aber ihr Gesetz durchsetzen kann. Michel Foucault

Ein schwarzhäutiges Zimmermädchen in der großen Marmorbühnenbox wischt den Boden, wischt und wischt, ihre Bewegung wird langsamer, wird Zeitlupe. Dann, nach einer Vorhangpause voll laut dröhnendem Rauschen: absolute Stille. Als wäre aller Ton weggedreht. Und in der Stille, im grellen, nackten Marmorraum, sitzt allein ein Baby, gerade mal ein paar Monate alt, sitzt und guckt ungläubig. Langt zögernd, ohne den Blick von den Zuschauern zu lassen, nach einem schwarzen Becher, stößt ihn um, und drei Würfel rollen über den weißen Boden. Ein surrealer Traum, eine Filmszene vielleicht, doch mit elektrisierender physischer Präsenz. Und das Publikum traut sich kaum zu atmen, um ja das Kind nicht zu erschrecken. Um das Bild nicht zu zerstören. Um keine Verantwortung auf sich zu laden.

Wie fasst man Präsenz in Sprache? Nach welchen Kriterien bewertet man den Auftritt eines Babys? Dürfen die das? Welche ethischen Prinzipien gelten für Kunst? Was beschreibt man, wenn es keinen Plot zu beschreiben gibt, keine Schauspielerleistung, keine Dialoge? Und wie wahr ist die Erinnerung?

Dass das Theater sich immer weniger damit zufrieden gibt, einen Text mehr oder minder behutsam oder gewalttätig auf die Bühne zu hieven, zu interpretieren, zu bebildern, zu beleben – das hat den Job des Kritikers nicht gerade einfacher gemacht. Kriterien für gut oder schlecht waren in Kunst und Leben immer schon Konstrukte, ein schwer auseinander zu klamüserndes Gemenge aus relativem Diskurskonsens und Privatmeinung. Aber immerhin: Solange klar ist, dass es darum geht, ein Drama einigermaßen gewinnbringend zu inszenieren, solange der Text immer an erster Stelle kommt und alles andere ihm folgt, solange der Schauspieler (egal ob psychologisch oder manieriert, ob sehr physisch oder sehr ätherisch, ob ästhetisch überhöht oder dienend) eine einigermaßen klar umrissene Rolle spielt, solange er überhaupt eine Rolle spielt, solange hat man beim Schreiben genügend Fäden in der Hand, denen man je nach Bedarf folgen kann. Und wenn man dennoch mal ratlos ist, kann man sich noch immer als Handwerkskammer betätigen: Wo alles nichts hilft, bemängelt oder lobt man halt die Aussprache des Hauptdarstellers.

Text, Bewegung, Raum, Ton, Licht, whatever

Das waren noch Zeiten. Inzwischen kann man froh sein, wenn überhaupt ein Schauspieler beteiligt ist und der Kritiker nicht stattdessen die performativen Leistungen (und die „Präsenz“) von komplett gelähmten ALS-Kranken (in Schlingensiefs „Kunst und Gemüse“), von alten Frauen, arbeitslosen Fluglotsen und indischen Callcenter-Mitarbeitern (alles: Rimini Protokoll), von lustvoll spielenden Profi-Dilettanten (z.B. She She Pop oder Showcase Beat Le Mot), oder eben – wie in der eingangs geschilderten Szene aus dem vierten Teil von Romeo Castelluccis „Tragedia Endogonida“ – von neunmonatigen Kindern zu beurteilen oder zumindest zu beschreiben hat.

Die kritische Haltung gegenüber der Arbeit des Schauspielers und seiner Rolle ist eines der augenfälligen ästhetischen Symptome gegenwärtigen „experimentellen“ Theaters. Es resultiert auch aus einem Misstrauen gegenüber traditioneller Schauspielkunst mit ihren oft berechenbaren Tricks, aber es wurzelt tiefer: Das „Als ob“ des konventionellen theatralen Paktes (also die Bereitschaft, dem Schauspieler seinen Hamlet für die Dauer eines Abends zu glauben oder zumindest als Denkkonstrukt zuzulassen) ist für viele Theatermacher keine brauchbare Ausgangssituation mehr. Die Repräsentationskritik, hier vor allem des psychoanalytisch geprägten französischen Poststrukturalismus und seiner Spielarten, hat zwangsläufig auch die Repräsentationsmaschine des Theaters problematisiert. Das, nennen wir es der Einfachheit halber weiterhin „postdramatische Theater“ will oft keine andere Wirklichkeit mehr zeigen, sondern in erster Linie, wie Jens Roselt sagt, „eine Situation schaffen, die selbst wirklich ist“. So zerfließen die Grenzen zwischen Schauspiel und Performance, zwischen Repräsentation und Präsentation – und mit ihnen zerfließen auch viele der handelsüblichen Analyse- und Bewertungskriterien. Wo der Text nicht mehr zwangsläufig das erste Wort hat, kann jedes Zeichensystem in den Vordergrund rücken, um Aufmerksamkeit heischen, Ausgangspunkt auch für eine Kritik sein. Bewegung, Raum, Ton, Licht, whatever. Vielleicht sogar: Präsenz.

Was aber bedeutet das für die Kritik? Zum Beispiel, dass sie mehr denn je darauf angewiesen ist, die Kriterien einer jeden Aufführung erst einmal aus der Aufführung selbst zu generieren. Was sind die Spielregeln, die behauptet und verwendet werden? Wie werden sie erfüllt? Aber natürlich auch: Hält man diese Spielregeln für sinnvoll, brauchbar, interessant? Denn eine Performance, ein Tanzabend, eine Theateraufführung ist ja keine self fulfilling prophecy. Sie steht in Kontexten, die man lesen können muss. Sie ist – wie schon immer – Teil von Diskursen, bezieht sich auf andere Arbeiten, auf Theorien, Auseinandersetzungen, Freunde, Feinde. Ohne Kontext ist ein schwarzes Quadrat nur ein schwarzes Quadrat, ein Pissoir ein Pissoir und schlechtes Schauspiel schlechtes Schauspiel.

Langsam haben sich Ansätze einer Sprache entwickelt, die für gegenwärtige Theaterformen brauchbar sind; Hans-Thies Lehmanns „Postdramatisches Theater“ beispielsweise hat durch seine für ein Spezialisten-Fachbuch immense Verbreitung viel dazu beigetragen, dass die Notwendigkeit einer solchen Sprache einer etwas breiteren Zuschauer- und Kritikerschaft bewusst wurde. Auch die neuere Tanzkritik, die längst schon gewohnt war, ohne Handlung, Text und Psychologie auskommen zu müssen, hat einiges beigesteuert.