Ein Mann kommt auf die Bühne, projiziert ein paar Bilder von Hühnern. Redet von Bodenhaltung. Prinzipielle Überlegungen zu Futter, Ungeziefervermeidung, Schlachtung. Die Zuschauer ratlos oder amüsiert, drei, vier verärgert. Nach einstündigem Diavortrag dann Zeit für Fragen; Fragen zur Geflügelzucht und Fragen zur Repräsentation im Theater. Aber weiß der Mann auf der Probebühne des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft wirklich, dass alle hier etwas ganz anderes erwartet haben, eine echte Performance eben und keinen echten Menschen? Und ist das Publikum sich sicher, dass Herr Heller ein solcher ist? Ein Experte für Hühnerhaltung und nicht für Schauspiel?
Peter Heller spricht über Geflügelhaltung aus dem Jahr 1997 bietet sich an, wenn man nach einer Urszene sucht für das Theater von Rimini Protokoll. Die Idee war entstanden in einer Gießener Studentenkneipe, bei Bier, Schnitzel, und in größerer Runde. Den konkreten Geflügelzüchter aber hatte Stefan Kaegi in Petto, der kurz zuvor von der Züricher Kunstschule F+F in die hessische Kleinstadt gekommen war. Eigentlich nur, um für ein halbes Jahr zu schauen, ob es etwas zu lernen gäbe an dem von Andrzej Wirth 1982 gegründeten Institut, das die konservative FAZ später als „die größte Unglücksschmiede des deutschen Theaters“ bezeichnete, weil von hier unter anderem René Pollesch, She She Pop, Showcase Beat Le Mot und (in Teilen) Gob Squad aufbrachen, das Sprech- und Stadttheater zu hinterfragen oder zu unterlaufen. Das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft war das einzige (und ist es in dieser Konsequenz bis heute), das an einer deutschsprachigen Universität Theatertheorie und -praxis miteinander verknüpfte und vor allem: das sich in erster Linie zeitgenössischen und experimentellen Theaterformen widmete.
In diesem Kontext war Peter Heller ein schnell realisierter Versuch, ein Spiel mit dem Theater, um gerade diejenigen zu irritieren, die sich studienbedingt andauernd mit der Irritation des Theaters beschäftigten. Ein theatrales Readymade. Für Stefan Kaegi und Bernd Ernst – der im selben Jahr wie Kaegi nach Gießen kam – war es der Anfang einer ganzen Reihe von Untersuchungen darüber, wie mächtig die Blackbox als Repräsentationsmaschine ist, wie sehr alles, was man in sie hineinstellt, automatisch Theater wird. Aber auch, wie sich durch das, was man in ihn hineinstellt, der Blick in den schwarzen Kasten verändert.
Auf Peter Heller folgten die Inszenierung einer adligen deutschen Dogge und ein neurotischer Ufologe. 1999, als sich Bernd Ernst und Stefan Kaegi schon den Namen Hygiene Heute (als Motto gegen den vielen Staub im deutschen Theater) gegeben hatten, entstand mit Training 747 im Rahmen des Cutting Edge-Festivals am Staatstheater Darmstadt eine erste abendfüllende Arbeit; eine verworrene und verspielte Geschichte über geheimnisvolle Parallelen der legendären Flugzeugabstürze von Joseph Beuys und Matthias Rust. Da war das Interesse am reinen Readymade schon der Lust an komplexeren Theaterabenden gewichen.
Mögliche Rimini-Urszenen gibt es aber auch andere. Seit Januar 1995 entwickelten Marcus Droß, Helgard Haug und Daniel Wetzel, ebenfalls Gießener Studierende, unter dem Namen Ungunstraum – Alles zu seiner Zeit Performances, die vor allem daran arbeiteten, die Mechanismen des Theaters zu verwerfen oder explizit auszustellen. Und dabei immer wieder auch Theaterlaien als Experten für bestimmte Funktionen auf der Bühne einsetzten.
Zusammengefunden hatten sich die drei im Rahmen eines szenischen Projektes des Komponisten und Regisseurs Heiner Goebbels, der damals als Gastprofessor am Institut unterrichtete. Kafkas Erzählungsfragment Beim Bau der Chinesischen Mauer war die Grundlage, auf der die Studierenden arbeiten sollten; und so führte die 1. Etappe von Ungunstraum (als Etappen bezeichnete die Gruppe künftig fast alle ihre jeweils aufeinander aufbauenden Performances und Installationen) auf eine imaginäre Reise von Gießen nach Peking. Allerdings nicht mit einer erkennbaren Narration – genau genommen mit überhaupt kaum etwas Erkennbarem: Kafkas Text wurde durch eine korrekte Zugverbindung zur Chinesischen Mauer ersetzt. Und auch die Performer verschwanden in einer Installation aus dampfbeschlagenen Scheiben, die Schreib- und Projektionsfläche waren, sowie hinter allerlei Sound und Technik. Das Performer-Ich (ganz zu schweigen vom Schauspieler-Ich) wurde äußerst kritisch betrachtet: „Irgendwas hat uns auf die Bühne getrieben, aber dort haben wir uns dann die ganze Zeit versteckt“ (Haug).