Zwischen Tahrir-Platz und Stadttheater

Florian Malzacher & Bernd Stegemann im Gespräch Matthias Frense & Sebastian Brohn

Theater der Zeit
JUN 2016


Matthias Frense: Ihr beide habt Bücher publiziert, die nach den politischen Potenzialen des Theaters fragen. Unter welchen Voraussetzungen ist Theater heute politisches Theater?

Florian Malzacher: Für mich hat politisches Theater sehr viel auch mit der Form zu tun, der Form, in der wir zusammenkommen: Die Frage ist, wie Theater in seinen Inhalten und in seiner Form politisch sein kann. Ich finde es nicht hilfreich zu sagen, jedes Theater sei, weil bereits in der Ästhetik ein bestimmtes politisches Potenzial liege, per se politisch. Ich bin für eine Stärkung des Begriffs des Politischen. Wenn Theater also politisch sein will, muss es politische Inhalte verhandeln. Aber es ist ebenso wichtig, dass Theater als Raum sowie in der Wahl seiner ästhetischen Mittel selbst politisch ist. In einer Zeit, wo öffentlicher Raum bekanntlich knapp ist, kann Theater eine öffentliche Sphäre sein, in der beispielsweise Verfahrensweisen von Demokratie ausprobiert oder gar erfunden werden können. Mich interessiert, welches spezifische Potenzial Theater hat, wenn wir es als Medium wirklich ernst nehmen.

Sebastian Brohn: Wie ist das Verhältnis von politischer Form und politischem Inhalt heute im Theater zu beschreiben?

Malzacher: Jede Kunst und jede Auseinandersetzung mit Kunst ist immer auch an die jeweilige Zeit gebunden. Auf eine Periode des vor allem inhaltlich gedachten politischen Theaters in den 1970er und 1980er Jahren folgte als Gegenentwurf ein Theater, das sich sehr stark auf die Form konzentrierte, das sogenannte postdramatische Theater. Dazu kam, dass vor allem viele Gießener Gruppen fanden, man könne sich nicht anmaßen, immer über die Probleme anderer zu reden, als würde man sie wirklich verstehen; man müsse also erst mal über sich selbst reden. Die Gefahr dieser sehr richtigen Überlegung liegt auf längere Sicht in der reinen Nabelschau. Oder darin, dass das Diktum, alles sei politisch, irgendwann heißt, dass nichts mehr wirklich politisch ist.
Für mich funktioniert in diesem Zusammenhang, zumindest als Metapher, Chantal Mouffes Konzept vom „agonistischen Pluralismus“ gut: Die verbreitete politische Logik des Konsens führt dazu, dass politische Gegnerschaften nicht mehr sichtbar sind – und sich irgendwann nur noch als völliger Antagonismus, also absolute Feindschaft äußern. Das erleben wir ja gerade sehr konkret. Demokratie muss für Mouffe eine Arena sein, wo Differenzenaus- agiert werden können, ohne sie im Konsens befrieden zu müssen. Solche Arenen können Theater zumindest im Kleinen sein.

Brohn: Bernd, wie würdest du das Verhältnis von Form und Inhalt im politischen oder politisch relevanten Theater beschreiben?

Bernd Stegemann: Wir sind tatsächlich an einem seltsamen Kippmoment, wo man versuchen könnte, aus beidem ein neues Mischungsverhältnis herzustellen. Ich versuche ständig, dazu anzuhalten, nicht mehr ausschließlich auf die ästhetische Entwicklung des Theaters zu gucken, sondern eher auf die Frage: Wie kannst du mit deinem ästhetisch, dramaturgisch, performativ, schauspiel-technisch und inszenatorisch geschulten Blick die gesellschaftliche Realität besser analysieren, als es vielleicht andere Leute können, um aufgrund dieser Analyse die verborgene Widersprüchlichkeit herauszulesen und diese in eine theatrale Umsetzung zu überführen?

Malzacher: Dem kann ich erst mal zustimmen, aber was mich irritiert, ist der letzte Schritt, wo du das Ganze aus der Realität herausnimmst und als Abbildung auf die Bühne stellst. Was bedeutet dieser „geschulte Blick“? Wessen Blick? Welche Hierarchien impliziert er, welche Autorität steht dahinter? Oder geht es am Ende einfach nur darum, eine handwerklich ordentliche Aufführung zu basteln?

Stegemann: Nein, natürlich nicht. Ein Beispiel: Ich war zum letzten Mal vor fast zehn Jahren in Mülheim, als Rimini Protokoll für Das Kapital den Mülheimer Dramatikerpreis bekamen. Ich wurde interessanterweise von Rimini Protokoll dazu eingeladen, die Laudatio auf sie zu halten. Das habe ich auch gern gemacht. Ich habe damals versucht, sie in eine Brecht-Nachfolge zu bringen. Brecht, der in seiner Lehrstück-Phase sagte, nicht der Schauspieler werde den Genossen nachspielen, sondern der Genosse selbst soll auf die Bühne treten und seine eigene Geschichte – episch erspielend – erzählen. Das fand ich lange Zeit das Interessante an Rimini Protokoll. Mittlerweile sehe ich das deutlich kritischer. Diese Methode, ein Problem in der Wirklichkeit einfach anhand einer bestimmten Biografie zu beobachten, den Menschen in Proben in dieser Rimini-Protokoll-Technik seine Geschichte erzählen zu lassen, die dann schön zusammenkomprimiert und mit einem Mikroport versehen auf der Bühne zum Besten gegeben wird, kommt mir mittlerweile wie eine gigantische Lüge vor.
Die Lüge existiert für mich in einem doppelten Sinn. Einerseits: Was erzählt denn jemand in einer Probensituation bei Rimini Protokoll über sich selbst? Das ist ein sehr heikler Punkt, denn die Person befindet sich ja schon in der Situation, Alltagstheater zu spielen. Das heißt, er oder sie hat schon bestimmte Narrative, wie man gern gesehen werden möchte, was man an sich witzig findet und so weiter. Da steckt schon eine erste Entfremdung drin. Die wird dann verdoppelt, indem sie für die Bühne komprimiert und ästhetisch wieder in flow gebracht wird. Da wird den Leutenerst eine Art Grundlagenseminar in Schauspiel verpasst, nur um die ganze Zeit zu gucken, ob das jetzt noch authentisch wirkt. Das ist die zweite riesige Lüge: Authentisch ist da für mich gar nichts.
„Authentisch“ ist sowieso ein sehr komplizierter Begriff. Auf dem Theater kann es nur um Glaubhaftigkeit, Wahrhaftigkeit und Realität gehen, aber nicht um Authentizität. Bei Rimini Protokoll legen sich sozusagen zwei Entfremdungslügen übereinander. So kommt man den Widersprüchen der Realität nicht auf die Spur, sondern wiederholt sie in affirmativer Weise.

Malzacher: Das affirmative Wiederholen ist doch eher eine Kernkompetenz des dramatischen Theaters. Bei Rimini Protokoll geht es doch nichtprimär um Authentizität – in Gießen war ja gerade dieser Begriff eher tabu. Und die künstlerischen Arbeiten, die mich interessieren, haben zumindest einen sehr komplexen Begriff von Authentizität. Aber wenn wir glauben, dass Theater tatsächlich etwas mit unserer gesellschaftlichen Realität zu tun hat, ist die Frage, wer wen wie auf welche Weise und mit welchem Recht auf der Bühne repräsentiert, essenziell. Aber das lösen wir nicht dadurch, dass wir sagen, dann machen’s halt wieder die Schauspieler oder die Abgeordneten oder wer auch immer. Das sind – in der Gesellschaft wie im Theater – komplexe Probleme.

Frense: Das Repräsentationsproblem entspricht auch gesellschaftlich der postdemokratischen Zeit, in der wir leben. Das Konzept der repräsentativen Demokratie findet kaum noch eine gesellschaftliche Entsprechung. Ist die Frage nach der Repräsentation die zentrale Herausforderung, der wir gesellschaftlich gegenüberstehen?

Malzacher: Das Faszinierende am Theater ist für mich, wie ähnlich seine Fragen und Probleme oft denen der Gesellschaft sind. Weder Gesellschaft noch Theater funktionieren ohne Repräsentation. Aber die Frage ist, welche Repräsentation wir suchen und wollen. Da gibt es in den gegenwärtigen Demokratien und im gegenwärtigen Theater nur Suchbewegungen. Aber auf diese Suche müssen wir uns begeben!

Brohn: Bernd, wenn du den Blick vom Theater in die Gesellschaft lenkst, was stellt für dich das Kernproblem dar?

Stegemann: Dieses instinktive Ekelgefühl gegen die Repräsentation hab ich nicht. Ich finde es unglaublich angenehm, wenn ich im Zuschauerraum sitze und denke, da sind jetzt Leute, die sich für mich etwas ausgedacht haben. Ich delegiere ihnen für bestimmte Zeit, dass sie mir etwas vormachen, mich beeindrucken dürfen, mich beleben, mich nerven, was auch immer. Ich habe es aber sehr viel lieber, wenn die Leute auf der Bühne etwas erlernt haben, das ihnen ihr Spielen, ihr Erzählen, ihr Sprechen, ihr Dasein auf der Bühne besonders macht, schön, professionell, auch virtuos. Diese ganzen alten handwerklichen Begrifflichkeiten eben. Ich schaue nicht gern Leuten zu, die sich genauso idiotisch auf der Bühne verhalten wie ich selbst.

Frense: Die Frage ging aber eher in eine politische Richtung, du antwortest ästhetisch.

Stegemann: Für mich liegt im Spiel die politische Aussage. Für mich ist Spiel ganz klassisch, von Brecht aus gedacht, das Ereignis, das die Wiederholung der Widersprüche der Gesellschaft auf der Bühne sichtbar werden lässt. Dadurch habe ich die Möglichkeit, den Widersprüchen anders zuzuschauen, als ich es in der Realität kann.

Malzacher: Da bin ich erst mal d’accord. Aber das Problem entsteht zum einen, wenn es beim rein kontemplativen Beobachten bleibt. Zum anderen ist die Frage, welche Schauspieler wen repräsentieren. Wir als mittelalte weiße Mittelschichtsmänner kommen da ja gut bei weg – denn wir werden meist von mittelalten weißen Mittelschichtsmännern auf der Bühne repräsentiert. Aber von wem werden „die Anderen“ repräsentiert, wenn sie überhaupt vorkommen? Das ist doch ein Problem, und zwar eines, das nicht einfach lösbar ist, das vielleicht nie lösbar ist, an dem wir immer nur weiterarbeiten können.

Stegemann: Für mich heißt schauspielen grundsätzlich, dass jeder alles spielen kann.

Malzacher: Ja, genau. Das ist die Anmaßung, das ist das Problem. Die Annahme, dass jeder alles spielen kann, ist für mich gesellschaftlich und damit auch im Theater indiskutabel.

Stegemann: Aber warum ist es indiskutabel, dass jeder alles spielen darf? Darin liegt doch die große befreiende Kraft, die das Theater bedeutet und die von geschlossenen Gesellschaften immer bekämpft worden ist und heute noch bekämpft wird.

Malzacher: Es spielt ja eben nicht jeder alles, sondern bestimmte Leute spielen alles, und ganz viele spielen nichts, vor allem keine Rolle. Das ist das Problem in der Gesellschaft, und das ist auch ein Problem im Theater.

Stegemann: Du kannst doch nicht aus historischen Verfestigungen in den Institutionen eine allgemeine ästhetisch-moralische Regel ableiten. Die Schauspielschulen, das kann ich zum Beispiel von der „Ernst Busch“ sagen, suchen händeringend und seit vielen Jahren schon die sogenannte postmigrantische dritte Generation. Es gibt einfach relativ kleine Bewerberzahlen.

Malzacher: Darum geht es nicht. Natürlich wäre es gut, wenn sich das Bild der Ensembles verändern würde. Aber das Problem liegt tiefer, als dass es dadurch gelöst würde, dass ein Intendant ein paar „postmigrantische“ Schauspieler engagiert, die dann hoffentlich auch irgendwann mal den Hamlet spielen dürfen. Das grundsätzliche strukturelle und ästhetische Problem dahinter kann das bürgerliche Theatermodell nicht lösen.

Stegemann: Also wenn ich das richtig verstehe, ist deine Lösung grundsätzlich nicht damit verbunden, dass ein Schauspieler etwas spielt.

Malzacher: Repräsentation und Differenz funktionieren graduell. Es ist ja interessant, dass es „plötzlich“ nicht mehr okay ist, wenn ein weißer Schauspieler einen schwarzen Mann spielt. Was bedeutet das in der Konsequenz? Darf der weiße Schauspieler eine Frau spielen? Darf er einen anderen Weißen spielen? Oder zumindest einen anderen weißen Schauspieler? Das zielt auf den Kern von Repräsentation. Und für das Befragen dieses Problems ist das Theater der perfekte Ort.

Brohn: Es geht also bei Repräsentation weniger um Fragen nach Authentizität als um Fragen von Macht. Bernd, was sind aus deiner Perspektive heute die dringlichsten gesellschaftlichen Herausforderungen, denen sich das Theater stellen müsste?

Stegemann: Die dringlichste Aufgabe ist es, den Schauspieler in einer ganz anderen Form, als es heute getan wird, wieder zum Zentrum des theatralen Ereignisses zu machen. Die Frage dabei ist: Was arbeitet eigentlich der Schauspieler? Wenn man es auf eine Formel bringen will, würde ich sagen, er arbeitet daran, durch verschiedene Arten des Spiels unterschiedliche Arten von Öffentlichkeit herzustellen. Simpel gesagt: Beim identifikatorischen Spiel, dem sogenannten psychologisch-realistischen Vierte-Wand-Spiel, stellt er eine gerührte Identifikation der Zuschauer her. Durch das epische Spiel stellt er eher ein fragendes, ein befremdetes, verfremdetes Wahrnehmen her. Dazwischen gibt es performative Spielweisen, und es gibt sehr formale Spielweisen. Ich glaube, dass man tatsächlich von Gießen etwas lernen könnte, und man ist auch gerade an verschiedenen Stellen dabei, das zu tun. Allerdings immer unter der Prämisse, dass der Schauspieler versucht, das als Kunstfertigkeiten in sich zu entwickeln, um die- se wieder zur Basis und zur Produktivkraft des Theaters zu machen.

Frense: Du hast in deinen Büchern eine starke ökonomische Analyse der Gesellschaft vorgenommen. Was sind die gesellschaftlichen Herausforderungen, die das repräsentative Theater dring- lich machen?

Stegemann: Das sind die Widersprüche, die durch die neoliberale Verfassung unser aller Leben bestimmen: Sei authentisch, aber so, wie es von dir verlangt wird. Die Folge ist, dass wir uns die ganze Zeit selbst vermarkten müssen, dass wir in einer unendlich breiten Gegenwart leben, in der wir ständigen Bewährungsproben ausgesetzt sind. Der Kapitalismus ist inzwischen zu unserer Natur geworden, das will zumindest die Gegenwart uns immer glauben machen. Und alle, die diesen Glauben nicht verkörpern können oder wollen, werden sehr schnell aus dem Markt ausgeschlossen. Das sind Widersprüche, die man überhaupt erst mal sinnlich darstellen können muss.

Malzacher: Das ist der Punkt, den ich nicht verstehe. Du beschreibst das doch genau anhand von Brecht: Auf der traditionellen Bühne werden gesellschaftliche Verhältnisse dargestellt und analysiert, die vom Publikum, der Gesellschaft als durch sie nicht veränderbar wahrgenommen werden. Darum geht es mir ja. Dieser Widerspruch muss doch gezeigt werden, ob durch Schauspieler oder Performer. Aber diese politisch-analytische Ebene im Spiel auszublenden, das kann doch nicht funktionieren. Schwuppdiwupp wieder eine Rolle finden, in der ich das verkörpere – diesen Schritt verstehe ich nicht.

Stegemann: Ja, das geht mir umgekehrt genauso …

Malzacher: Aber dann erklär’s mir, erklär’s mir doch!

Stegemann: Ich finde es kompliziert, wenn der ganze Inhalt auf der Bühne einerseits in der Semantik und andererseits darin lie- gen soll, dass der Mensch, der dort etwas tut, die ganze Zeit in seiner Art des Tuns Inhalt der Veranstaltung werden soll. Das ist für mich zu wenig, da es einerseits abstrakt stattfindet und andererseits auf eine für mich undialektische Art von Sinnlichkeit ab-zielt. Für mich ist der Schauspieler genau diese Brücke zwischen diesen beiden Bereichen, er kann die Differenz herstellen zwischen dem Gespielten und dem Spielen. Er verfügt dabei über eine sehr viel größere Souveränität, entscheiden zu können, wo er spielt, wo nicht, wo er in die Emotionalität geht und wo nicht. Er ist sehr viel komplexer in dem, was er kann. Das ist für mich das intelligentere Vergnügen.

Malzacher: Das ist doch Schnee von gestern: Es gibt längst eine große Bandbreite an Darstellungsmöglichkeiten, der Spagat zwischen Schauspiel und Performance ist ja dabei längst nicht mehr kompliziert.
Brohn: Ich habe das Gefühl, für dich, Bernd, soll die Realität einfach nicht einbrechen in das Spiel.

Stegemann: Für mich ist die Entwicklung der Kunst des Schauspielens kein Schnee von gestern, sondern das Zentrum der Theaterkunst. Der Einbruch des Realen ist für mich hingegen nicht der Ausgangspunkt des Spiels. Das kann ein ästhetisches Mittel, aber nicht das Fundament des Ganzen sein, zumal es inzwischen durch inflationären Gebrauch zum Klischee verkommen ist.

Brohn: Du suchst, so beschreibst du es in deinem Buch, einen neuen Realismus im Theater. Wie ist das zum Beispiel bei jemandem wie Milo Rau? Er arbeitet mit Schauspielern, die eine ästhetische Qualität besitzen, die nicht jeder Laie einfach so herstellen kann. Auf der anderen Seite sind da aber auch ganz reale Akteure, die sich selbst repräsentieren – mit einem sehr realen Anliegen.

Stegemann: Milo Rau macht ja mindestens drei verschiedene Kunstformen: Interventionen in die Stadt wie in City of Change in St. Gallen, das Nachspielen von Prozessen wie in Moskau, Zürich und im Kongo, ohne Schauspieler, sondern mit Experten des jeweiligen Prozesssystems, die er zuvor gecastet hat. Und dann richtige Theaterinszenierungen. Jüngst hat er mit Ursina Lardi an der Berliner Schaubühne einen Monolog inszeniert, wo sich Ursina Lardi, eine Schauspielerin durch und durch, kategorisch geweigert hat, als Ursina Lardi auf die Bühne zu gehen. Das hat auf den Proben zu großen Diskussionen geführt. Am Ende musste sie Milo Rau als Schauspielerin inszenieren – meiner Meinung nach zum beiderseitigen Gewinn. In dem Stück Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs spielt sie eine Frau, die eine NGO-Karriere hinter sich hat. In der Art, wie sie über ihr eigenes Engagement in verschiedenen afrikanischen Ländern berichtet, über ihr „Herrenmenschentum“, welches sie dort als die gute weiße Frau, die ständig Schwarzen hilft, ausleben konnte, wird sie permanent unsympathischer. Das konnte meiner Meinung nach überhaupt nur eine Schauspielerin spielen, diese Boshaftigkeit der Figur gegenüber. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau, die das erlebt hat, sich auf die Bühne stellt und ihre eigene Biografie so in die Tonne tritt.
Gerahmt wird dieser Monolog von der schwarzen Schauspielerin Consolate Sipérius, die den Abend damit beginnt, dass sie von ihrer Flucht aus Burundi nach Belgien erzählt und von ihrer Sorge, als schwarze Schauspielerin in Europa immer nur das exotische Beiwerk für das Spiel der Weißen zu sein. Und als genau solches hat Milo sie dann hinter dem virtuosen Spiel von Ursina inszeniert. Das meine ich mit dialektischem Realismus: Herrenmensch feiert sich in seinem Mitleid vor den stummen Augen der Opfer.

Malzacher: Milo Raus Arbeit ist in diesem Zusammenhang interessant. Für mich war beispielsweise Hate Radio, das viele sehr mochten, problematisch. Denn er behauptet, durch seine Mon- tage eine Wirklichkeit herzustellen, die wirklicher ist als eine getreue Abbildung des eigentlichen Ereignisses, auf das er sich bezieht (Thema des Stückes ist der Propagandasender Radio RTLM, der während des Völkermordes in Ruanda zum Mord aufrief, Anm. d. Red). Diese Position der Wahrheitsherstellung finde ich politisch wie künstlerisch fragwürdig. Deshalb fand ich The Civil Wars, das wir im letzten Jahr bei Impulse gezeigt haben, einen bemerkenswerten Schritt: weil da die Haltung „Ich hab Schauspieler, die ein paar Jugendliche interviewen, die sich dem IS angeschlossen haben, und dann diese Rollen spielen“ an eine Grenze gekommen ist. Das konnten sie nicht repräsentieren. Stattdessen redeten sie dann über ihre eigenen Biografien und versuchten, sich in Beziehung zu setzen. Das finde ich künstlerisch und politisch interessant. Und letztlich auch komplexer.

Frense: Hat sich das Verhältnis von Kunst und Politik verschoben?

Malzacher: Für mich persönlich hat sich auf jeden Fall etwas verschoben, und ich glaube, dass sich auch gesellschaftlich und künstlerisch etwas verschoben hat. Vor fünf, sechs Jahren haben wir uns beim Steirischen Herbst gemeinsam mit den Künstlern gefragt, was eigentlich die Rolle von Kunst sein kann in politischen Umbruchsituationen wie auf dem Tahrir-Platz, bei Occupy etc. Mein Reiserhythmus hat mich dadurch von den internationalen Festivals weg zu Recherchen an Orten im Umbruch geführt.
„Breaking the News“ nannte das zum selben Zeitpunkt die Berlin Biennale. Auch wenn es vielleicht an einem gewissen Punkt die Gefahr eines Polittourismus gibt, war das damals für mich sehr wichtig – weil es sich an den Fragen vieler Künstler orientiert hat: Was ist meine Rolle als Künstler in solchen Situationen? Kann ich mit meiner Kunst etwas beitragen? Die Intensität dieser Auseinandersetzung vieler Künstler hat meine Wahrnehmung etwas anders justiert. Die Idee der Autonomie von Theater und Kunst war mir schon immer fremd. Aber die Konsequenzen daraus sind noch mal dringender geworden. Dass der Wunsch nach einer Autonomie der Kunst bei vielen gerade wieder sehr populär wird, finde ich skurril. Für mich ist das Eskapismus. Oder schon innere Emigration.

Brohn: Was denkst du, Bernd? Kann man Politik, Soziales und Kunst noch trennen? Befinden wir uns gerade in einer Art Suchbewegung im Theater zwischen Tradition und etwas Neuem, das sich anbahnt, aber noch nicht ganz da ist?

Stegemann: Ich fliege nicht um die Welt, um mir so etwas anzuschauen. Meine Fragestellung ist: Wie kann ich das Theater, in dem ich arbeite, mit Impulsen versehen? Mit Impulsen für die Produktion von Theater und nicht für den Einkauf schon fertiger Kunstwerke?

Malzacher: Aber trotzdem ist das doch auch für dich ein Ausgangspunkt. Lob des Realismus fängt ja mit einer klaren gesellschaftlichen Analyse an, der ich in großen Teilen zustimmen würde

Stegemann: Ja klar, das meine ich mit Impulsen. Aber es sind ganz unterschiedliche Perspektiven, ob ich mich in meiner gesellschaftlichen Analyse frage, wo gerade in der Welt zwischen Libyen und Australien politisch Brisantes stattfindet, damit ich dorthin fliegen kann, um zu schauen, was die Künstler und die Menschen tun, oder ob ich auf Grundlage meiner politischen Analyse in mein Stadttheater gehe und versuche, in diesem kleinen Gebäude mit seinen Menschen einen Theaterabend herzustellen. Das sind zwei ganz unterschiedliche Arbeitsvorgänge. In Berlin kann man ja ständig Produktionen aus aller Welt sehen, die dort, wo sie entstanden sind, sicherlich relevant sind. Aber ich habe jedes Mal ein totales Gefühl von Tourismus und denke: Ja, gut, das ist jetzt Japan. Aber was erfahre ich dabei über das Klischee der Fremdheit hinaus, über die Welt?

Malzacher: Aber Japan gibt es nun mal! Und obwohl es sehr schwierig ist, diesen Transfer herzustellen, kann man doch nicht sagen: Ich schau lieber nicht, was dort los ist. Wir müssen uns mitten hineinbegeben in das Dilemma der Repräsentation, des Nicht-Verstehens, der kulturellen Unterschiede. Das Wichtige ist: dass wir es offensiv und vor allem bewusst tun. Eine einfache Lösung wird es nie geben.