„Wir nennen es Theater“

Florian Malzacher im Gespräch mit Veit Sprenger über Freies Theater

In: Stichworte. Hg. Florian Malzacher, Dominik Müller, Felizitas Stilecke. Berlin: Alexander Verlag, 2017.


Veit Sprenger: Zu Beginn eurer Arbeit habt ihr die Festivalstruktur grundlegend umgebaut. Vorgefunden habt ihr eine Biennale in vier Städten, ein „Besten-Festival“ mit der Behauptung, die Qualitätsgewinner unter den freien Produktionen der vergangenen Jahre zu zeigen. Ihr habt daraus ein Festival im Jahresrhythmus gemacht, das wechselnd in einer der beteiligten Städte in Nordrhein-Westfalen seinen Schwerpunkt hat. Zudem ist die Qualitätsbehauptung weggefallen und wurde ersetzt durch wechselnde gesellschaftspolitische Fragestellungen. Was hat euch veranlasst, Impulse so grundlegend neu zu denken und wie hat das geklappt?

Florian Malzacher: Die Möglichkeit, aus der Biennale wieder ein einjähriges Festival zu machen und sich immer auf eine der drei Partnerstädte zu konzentrieren, war natürlich ein wichtiger Schritt zur Konsolidierung von Impulse. Dass das gelungen ist, hatte vor allem kulturpolitische Gründe: Nach der Ausgabe 2013 stand das Festival durch den Rückzug der Kunststiftung NRW als Förderer vor dem Aus. Und das war der Anlass für alle Partner – also das NRW Kultursekretariat als Veranstalter, die Partnerhäuser, die Städte, das Land – grundlegend darüber nachzudenken, ob und wie das Festival erhalten bleiben soll. Gemeinsam wurde dann diese Lösung gefunden, an der sich dann auch wieder die Kunststiftung NRW und erstmals der Bund beteiligt haben. Für das Festival ist das natürlich perfekt: Es ermöglicht eine ganz andere Konzentration – und auch finanziell sind die Impulse nun einigermaßen solide aufgestellt.

In den früheren Ausgaben gab es immer das Problem: Wie kriegen wir eine Düsseldorferin nach Mülheim, wie kriegen wir einen Mülheimer nach Bochum usw.? Ist die örtliche Eingrenzung hierfür eine Lösung?

Natürlich braucht es ein lokales Publikum, und das erreicht Impulse vor allem mit der Hilfe der Partnerhäuser, also dem FFT Düsseldorf, dem Ringlokschuppen in Mülheim/Ruhr und der studiobühneköln. Die Konzentration hilft einerseits bei der Mobilisierung des Publikums in der jeweiligen Stadt. Andererseits – und das hat dann auch mit dem zweiten Teil deiner Frage zu tun – entwickeln Leute aber auch Spaß daran, einem Festival selbst in Nachbarstädte zu folgen, wenn die Kriterien klarer werden, unter denen das Festival entsteht, und wenn sie inhaltliche, thematische Verbindungen zwischen den Ausgaben erkennen können.

Im Hinblick auf eine stärkere Kuratierung ist aber für den konkreten Fall Impulse wichtig, dass sie im Zusammenhang mit der Idee steht, dass es künftig alle drei Jahre einen Wechsel der künstlerischen Leitung geben soll. Das bedeutet, dass eben alle drei Jahre andere Dinge wichtig werden, vielleicht andere Kriterien gelten. Drei Jahre sind ein Zeitraum, den ein Publikum überblicken und nach dem es sich noch erinnern kann, was vorher war und Positionen vergleichen. Diese Kombination macht es aus: Eine durchaus sichtbare kuratorische Geste mit thematischen Setzungen – aber eben auch einen schnelleren Wechsel dieser Geste. Dann kann dieses Spiel mit dem Konzept des Besten-Treffens funktionieren. Weil man erkennen kann, dass es eben sehr unterschiedliche „Beste“ gibt. Auch wenn wir immer vermieden haben, von den Besten zu sprechen – wer würde schon sagen: In unserem Festival zeigen wir die schlechtesten oder die zweitbesten Arbeiten, die wir gesehen haben?

Es gibt ein Festival in Tampere: Die schlechteste Band Finnlands. Die Gewinner bekommen ein One-way-ticket nach Schweden …

Ja… Aber die Kriterien dafür, was gut oder schlecht ist, sind ja im Wandel – und da kommt auch die Frage des Politischen ins Spiel. Für mich ist die Abgrenzung zwischen Ästhetik und Politik fiktiv, denn selbstverständlich in sind in jede Ästhetik politische, normative Setzungen eingeflossen. Und wenn wir eine Ästhetik haben, die scheinbar bedeutet: Gute Kunst können eigentlich nur white middle class kids machen, ist das dann gottgewollt? Oder liegt es nicht eben auch an den Kriterien, die sich wieder verändern können oder müssen? Ich habe keine einfache Antwort darauf. Aber ein Festival wie Impulse – oder eigentlich jedes Festival oder jedes Haus – muss sich mit diesen Fragen auseinandersetzen: Welche Kriterien sind noch gültig? Und welche haben sich verändert oder sollten sich verändern?

Politisches Theater zu zeigen, ist der Dreh- und Angelpunkt deines kuratorischen Denkens der letzten fünf Jahre. Godard hat mal gesagt: „Es geht nicht darum, politische Filme zu machen, sondern politisch Filme zu machen“. Was ist das Politische am Theater? Ist Theater nicht schon genuin politisch, ganz einfach deshalb, weil es Publikum braucht, oder reicht das noch nicht?

Ich glaube, Theater ist genuin das Medium, das besser als alle anderen künstlerischen Medien, politisch sein kann.

Warum?

Weil es ein immer gemeinschaftliches Zusammenkommen ist, eine temporäre community, die man bildet. Gleichzeitig habe ich aber das Interesse, den Begriff des Politischen zu stärken und etwas enger zu sehen. Die Frage „Ist nicht jedes Theater politisch?“ lässt sich schnell erweitern zu: „Ist nicht alles politisch?“ Ja, alles ist politisch, bzw. hat politische Implikationen oder ist politisch geprägt. Die Idee „Das Private ist politisch“ sollte aber mal unterstreichen, dass auch das Private politisch geprägt ist – und nicht glauben machen, jegliches privates Tun reiche schon als politische Betätigung aus. Es gibt also eine Denkbewegung, die mal politisch relevant und richtig war, die uns inzwischen aber auch oft in eine Sackgasse manövriert. Wenn nämlich alles politisch ist — dann ist nichts mehr politisch.

Ich glaube nicht, dass alle Kunst politisch sein muss. Aber ich würde mir wünschen, dass sich nur die Kunst als politisch bezeichnet, die auch wirklich politisch sein will. Das ist das eine. Darüber hinaus aber glaube ich, dass Theater ein gesellschaftlicher Ort sein kann in dem Dinge verhandelt, Verfahrensweisen von Gesellschaft usw. ausprobiert werden können, wie in keinem anderen künstlerischen Medium.
Aber damit wird die Frage nach dem radikalen Potential von Theater eben auch eine ästhetische Angelegenheit. Und da sind eure Arbeiten von Showcase Beat Le Mot ja seit vielen Jahren ein gutes Beispiel: Nämlich sich zu fragen, wie kann man ein Zusammenkommen ermöglichen, was sind die Hierarchien, was braucht es – bis hin zur Suppe oder anderen Dingen – damit dieser Ort des Zusammenkommens funktioniert. Der kann dann auf unterschiedliche Weise genutzt werden, und das reicht dann von Alles — eurer Arbeit, die wir 2013 zum Festival eingeladen haben— als einem Raum, der ganz viele Assoziationen und Themen öffnet und der sehr viel Freiraum gibt, bis hin zur strengeren, quasi realpolitischen Versammlung von Dana Yahalomi Macht Kunst Politik mit Kulturpolitikern im Düsseldorfer Rathaus. Das ist natürlich nicht das gleiche, aber es ist in beiden Fällen ein Ausloten dieses Potentials von Theater, wie das in solcher Konsequenz nur ein kleines Segment des Freien Theaters verfolgt. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, die Präsenz des Publikums anzuerkennen, selbst wenn es die Klappe halten und zuschauen muss. Es war also nicht nur ein politisches, sondern durchaus ein mediales bzw. ästhetisches Interesse, dass wir diesen Schwerpunkt so gesetzt haben.

Interessant, dass du die Frage nach den Raum aufmachst, weil Architektur natürlich, genau wie das Theater, eine per se politische Kunstform ist, indem sie Gesellschaft baut. Das ist ja eine sehr starke Setzung, mit der ein Kuratorium nicht nur auswählend, finanzierend, kommunizierend, sondern auch künstlerisch tätig werden kann — wie wird mit Räumen umgegangen?

Wir haben uns diese Frage zum einen ganz banal immer wieder mit unserem Festivalzentrum gestellt, das ja der Ort ist, wo relativ viel sehr konkret verhandelt wird…

… der wichtigste Ort für das Festival.

Auf jeden Fall. In diesem Buch gibt es einen Eintrag zum Stichwort “Kantine“ von Gesine Danckwart, die 2013 Chez Icke, eine Bar als Performance, für Impulse adaptiert hat. Die Kantine ist natürlich klassischerweise ein zentraler Ort für das Theater an dem auch viel interne Politik verhandelt wird. Mit Chez Icke und dann einer Arbeit von raumlaborberlin und am Ende mit Richard Lowdons Setting in Köln gab es immer wieder spielerische Versuche, auch die Funktionsweise eines Festivalzentrums, die Struktur des Publikums und des Festivals insgesamt zu thematisieren.

Zum anderen haben wir beispielsweise 2013 auf ganz andere Weise mit Yael Bartana versucht, nicht nur den öffentlichen Raum von Köln, sondern eigentlich ganz Köln zu bespielen. Es war der – natürlich gescheiterte – Versuch, eine Stadt zum Stillstand zu bringen im Gedenken an die Opfer von Rechtsradikalismus. Das hat zu sehr spannenden, aber auch anstrengenden und frustrierenden politischen Diskussionen geführt, schon bevor wir überhaupt richtig angefangen haben. Auch das ist ein öffentlicher Raum, den Theater bespielen kann: Wer redet da mit wem, wie wird was entschieden? Das ist ein Teil der künstlerischen Arbeit, die schwer zu verorten ist.

Wer Theater macht, wird immer nach dem Adressaten gefragt. Für wen arbeitet ihr? Wen wollt ihr ansprechen? Mit welchen Zuschauerzahlen ist zu rechnen? Der Grund für diese Frage liegt einerseits darin, dass das Theater eine relativ teure Kunstform ist und insofern viele Ressourcen verbrennt. Die Frage beinhaltet aber auch eine produktive Skepsis; ich meine damit das „Preaching to the Choir“-Problem. Ich weiß, dass ich euch darüber immer wieder Gedanken gemacht habt, deshalb ganz kurz gefragt: Wie verhindert ihr, dass nur die Leute unsere Stücke anschauen, die sowieso unserer Meinung sind? Welche Wege führen raus aus der Blase?

Das sicher wichtigste Beispiel wäre die Silent University, die wir in Mülheim mit dem Ringlokschuppen und Urbane Künste Ruhr zusammen gegründet haben …

… eines meiner Lieblingsprojekte …

…. und die wird es über unsere Zeit bei Impulse hinaus weiter geben. Die Silent University ist eine alternative Universität für geflüchtete Akademiker, die keinen anderen Ort mehr haben, ihr Wissen weiterzugeben. Eine prekäre, mehr und mehr selbstverwaltete Institution. Mit diesem Projekt war immer klar, dass es ein Festival an seine Grenzen bringt, nicht nur, weil es eine künstlerische Leitungsperiode überdauern muss. Ahmet Öğüt, der Initiator der Silent University, hat von Anfang an gesagt: Wenn du mir nicht zusichern kannst, dass das mindestens fünf Jahre da ist, dann brauchen wir gar nicht erst anfangen zu reden.

Die Impulse sind nicht irgendein Theaterfestival, sondern ganz ausdrücklich ein Festival der Freien Szene. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, was die Freie Szene überhaupt ist. Es gibt ja verschiedenste Definitionsansätze; erstens die Abgrenzung im Verhältnis zum Staatstheater oder Ensembletheater und zweitens in der Diskussion über Zuständigkeiten: Freies Theater, das sind die mit den echten Menschen und die in einer zerstrittenen Gesellschaft zur Integration Benachteiligter beitragen. Beide Definitionen, sowohl die strukturelle als auch die inhaltliche, sind nicht zufriedenstellend und beschreiben auch nicht hinreichend das Festival, das ihr da gestaltet habt. Was ist die Freie Szene für dich? Oder anders gefragt: Was ist frei am Freien Theater?

Der Begriff „freies Theater“ ist eigentlich sehr deutsch. Die Übersetzung independent theatre führt im Ausland oft eher zu Verwirrung…

… richtig, da heißt es devised theatre.

Und das finde ich als Definition schon interessanter: devised theatre hab ich mir im Idealfall immer so vorgestellt: Man fängt eine Arbeit komplett am leeren Tisch an und kann mal mit dem Licht anfangen, mal mit einem Monolog, mal mit dem Performer, mal mit einer Frage. Man kann immer von Null anfangen. Kann dann natürlich keiner, aber dieser Anspruch, wäre für mich eine radikale Definition von Freiem Theater.

Es gibt mindestens zwei, sehr unterschiedliche Auffassungen vom Freien Theater in Deutschland. Wir kommen beide aus einer sehr internationalen orientierten Freien Szene. Unsere Vorbilder waren ja eher die norwegischen Baktruppen oder die Wooster Group, Forced Entertainment etc. als die deutsche Vorgängergeneration des freien Theaters der 1970er, 80er Jahre.

Das Freie Theater der 1970er, 80er Jahre war, sehr pauschal gesagt, vielfach von Aussteigern aus dem Stadttheater geprägt, die gesagt haben: In diesen Hierarchien und Strukturen können wir nicht arbeiten, wir brauchen andere. Ästhetisch war das oft nicht sehr unähnlich zu dem, was in den Stadttheatern stattfand. Eine andere Welle des Freien Theaters, vor allem seit den 1990er Jahren, war gar nicht erst in diesen Stadttheatern drin, sondern hat sich ästhetisch anders orientiert und seine Vorbilder, wie gesagt, international gesucht. Und das ist der Strang, dem auch Impulse folgt.

Wenn aber das Ideal ist, immer wieder von vorn fragen zu können, was Theater eigentlich ist, dann produziert das natürlich eine immense Bandbreite – und da liegt für mich der Kern von Impulse. Irgendwer hat neulich auf Facebook gepostet: „Curating for me does not necessarily mean endorsing“. Das trifft es ganz gut: Kuratieren heißt nicht nur, zu zeigen, was meiner eigenen Neigung völlig entspricht, sondern auch das Spektrum einer Auseinandersetzung sichtbar zu machen.

Deine Setzung des Von-vorne-Anfangens rechtfertigt die Festivalidee. Es gibt ja viele Stimmen die fragen: Da wir schon so viele freie Spielstätten haben, die alle ihr Programm fahren, wozu brauchen wir auch noch Festivals? Ich glaube, es ist genau das, was du sagst: Eine Gruppe kann sich nicht Jahr für Jahr neu erfinden, oder sie darf es auch gar nicht. Irgendwann werden wir auf die von uns geprägten oder von uns gewählten Ästhetiken festgelegt und haben darin gefälligst zu funktionieren. Der Versuch, das eben mal nicht zu tun, grenzt an Selbstmord bei einer Gruppe. Ein Risiko, das nur möglich ist, wenn wir in der Programmierungs- und Bespielungsmaschine Punkte haben, an denen jemand kuratorisch austicken und echte Wagnisse eingehen kann.

Die Impulse definieren sich aber nicht nur als Festival der Freien Szene, sondern auch als Festival im deutschsprachigen Raum. Dass diese Eingrenzung in vielerlei Hinsicht Unsinn ist, wissen wir alle. Aber ist sie an bestimmten Punkten nicht doch auch sinnvoll, weil sie eine Differenz einführt – etwa in der Gegenüberstellung von verschiedenen Regionen des deutschsprachigen Raums?

Es ist natürlich interessant, dass zwar einige Arbeiten, die wir aus Österreich eingeladen haben – Theater Bahnhof und die Rabtaldirndln – sehr dezidiert mit dem steirischen Akzent umgehen oder dass beispielsweise in einem Stück des Jungen Theater Basel Schweizerdeutsch gesprochen wurde, in Arbeiten aus Deutschland Sprachvarianten doch etwas in den Hintergrund rücken.

Wir hatten überlegt, ob wir die geographische Begrenzung abschaffen sollen. Aber ich finde die Reibung interessant, weil sie etwas aussagt über die Gesellschaft. So wie es etwas aussagt, dass Impulse explizit ein Theaterfestival ist und kein Kunstfestival. Dadurch schärft es den Blick: Warum ist denn das noch Theater? Warum ist Gesines Chez Icke Theater, warum ist Yael Bartanas Zwei Minuten Stillstand Theater etc.? Dasselbe gilt für den deutschsprachigen Raum. Wenn beispielsweise Rabih Mroué, ein libanesischer Künstler, der eben in Deutschland lebt, seine Arbeit zeigt, wenn Phil Collins, britischer Videokünstler, Yael Bartana, israelische Künstlerin, etc., bei Impulse zu Gast sind, dann wird allein dadurch schon sichtbar, dass diese Freie „deutsche“ Szene vielfältiger ist, als sie von manchen wahrgenommen wird.

Man kann sich solche Fragen bei Impulse eben tatsächlich stellen: Warum sind manche Sachen auf Englisch, warum sind manche Sachen Deutsch? Warum sind manche in gebrochenem Deutsch und viele in gebrochenem Englisch? Und vielleicht kommt man auch auf die Frage: Woher kommen die Leute, die da bei einem Festival des deutschsprachigen Raumes zu sehen sind? Ich würde schätzen, ein Drittel hat keine deutschen, österreichischen oder schweizerischen Pässe. Und dann kann man sich natürlich auch fragen: Warum ist das eigentlich immer noch so, dass man doch vor allem eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe auf den Bühnen der Freien Szene sieht? All diese Fragen werden relevant durch diese Eingrenzung, darum haben wir sie für Impulse derzeit als einen sehr produktiven Anachronismus gesehen.

Wir erleben seit etwa zehn Jahren eine Spektakularisierung von politischer Aktivität, in beide Richtungen. Politischer Aktivismus bedient sich zunehmend des theatralen Mittels der Inszenierung, umgekehrt holt sich das Theater Aktivismus ins Haus, um neue Themen zu beackern und andere Zuschauer anzusprechen. Aber es besteht eben doch ein Unterschied zwischen dem Sturm auf den Winterpalast und seinem Reenactment. Im ersten Fall setze ich mich dem Kugelhagel aus, im zweiten Fall sehe ich mir selbst und anderen beim Politikmachen zu. Die Pose dominiert. Ist die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu umschiffen, nicht die Abschaffung des Theaters und der Austausch der Platzpatronen durch echte Kugeln, oder anders gefragt: Wie geht ihr mit der seit Brecht offenliegenden Wunde um, nämlich mit der Frage, ob Theater überhaupt etwas bewirken kann?

Ich glaube, dass diese Frage einfach offen bleiben muss. Ich habe großen Respekt vor Menschen, die sich entscheiden, den Raum der Kunst zu verlassen, um den Raum der Politik oder des Aktivismus zu betreten, oft verbunden mit extremen persönlichen Konsequenzen und Mut. Aber es gibt eine Schnittmenge zwischen Theater und Aktivismus – und es gibt ein Feld, wo das Theater etwas kann, was der Aktivismus nicht kann. Die Schnittmenge hat viel mit dem zu tun, worüber wir vorhin geredet haben: Wie man Leute zusammenbringt, versammelt. Aktivismus bedeutet für mich nicht nur spektakuläre Aktionen wie jene von Pussy Riot oder Zentrum für Politische Schönheit etc., die es in die Medien geschafft haben, sondern vor allem auch Bewegungen wie Occupy oder die vielen Platz-Besetzungen überall in der Welt, die sehr engagiert daran gearbeitet haben, was wir für eine Gesellschaft eigentlich wollen. Wie reden wir miteinander, wie treffen wir Entscheidungen? Nicht politischen Aktivismus machen, sondern politisch Aktivismus machen, wäre dann die Godard-Paraphrase. Und da ist man in bestimmten Aspekten nah dran an dem, was Theater ausmacht, beispielsweise der assembly. Aber genau bei der assembly, die viele theatrale Aspekte hat, sieht man auch den Unterscheid. Denn im Aktivismus wird die assembly meist als ein Raum gesehen, der authentisch sein soll – und damit haben wir im Theater tendenziell ja eher ein Problem.

Denn das Theater macht ja gerade aus, dass es immer real und nicht real zugleich ist, wirklich und symbolisch. Ich kann Teil von etwas sein und kann mir gleichzeitig dabei zuschauen, wie ich Teil von etwas bin.

Du hast viele Jahre beim steirischen herbst gearbeitet und damals immer großen Wert darauf gelegt, dass der Kunstaspekt im Theater eine stärkere Rolle spielen soll. Nicht nur im Hinblick auf die Produkte, sondern auch im Hinblick darauf, wie stark theoretisiert wird und auf welche Weisen wir Theater diskutieren. Da hast du bei der Bildenden Kunst einen gewissen Vorteil gesehen. Gilt das immer noch? Würdest du sagen, die verschiedenen Sparten sollten sich mehr verschränken? An welchen Stellen macht die Differenz Sinn und an welchen Stellen, würdest du dafür plädieren, diese überkommene Spartenbezogenheit einfach mal abzuschaffen?

Das eine sind institutionelle Fragen, also was findet im Theater statt, was findet im Museum statt, was kriegt welche Gelder usw. Das andere sind ästhetische Fragen. Auch wenn ich über andere Genres rede, spreche ich eigentlich immer aus der Sicht des Theaters. Was passiert, wenn ich auf bestimmte künstlerische Arbeiten aus dem Blickwinkel des Theaters schaue? Das ist es, was mich interessiert. Ich kann auch eine Installation als Theater beschreiben, oder zumindest manche. Mit einem Bild an der Wand wird das vielleicht schwieriger oder wird irgendwann sehr theoretisch. Mir geht es auch darum, dass ich oft finde, dass das Theater komisch defensiv ist, wenn es um seine eigenen Grenzen geht – wobei die Bildende Kunst kein Problem damit hat, mit hegemonialer Geste alles einzugemeinden. Dabei kann ja gerade Theater alles sein – und ist es auch schon immer. Du hast über Architektur geredet, über Installation – eure Arbeiten sind dafür ja beste Beispiele. Aber Theater ist auch Literatur, Musik, Klangkunst, Lichtkunst, was weiß ich. Und eben immer auch ein sozialer Raum.

Die Grenzen sind fließend. Aber es ist spannender zu schauen, was passiert, wenn man auf eine Arbeit von Showcase Beat le Mot als Installation schaut, oder als Konzert, oder als Theater. Oder wenn man auf eine Aktion von Yael Bartana bei uns als Performance, als Theater, als Happening schaut. Was passiert dann? Und ich würde diese verschiedenen Arten des Schauens nicht aufgeben wollen.

Das Festival besteht seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Es wurde oft schon totgesagt, und sowohl finanziell als auch politisch hat es an vielen Punkten seiner Biographie den Rückhalt verloren. Es hat sich dennoch immer wieder aufgerappelt, immer wieder neu erfunden. Was macht die Impulse zu so einem Stehaufmännchen? Ist es die gute Luft im Ruhrgebiet?

Naja, letztlich ist es halt doch noch immer die wichtigste Plattform für — was auch immer Freies Theater im deutschsprachigen Raum ist. Auch in seiner eigenen Wandlung: Wenn man sich anguckt, was von 1990 bis 2005 eingeladen wurde und was dann Tom Stromberg und Matthias v. Hartz eingeladen haben, was von uns gezeigt wurde und was künftig Haiko Pfost auswählen wird. Da gibt es natürlich Schnittmengen, aber auch Abgrenzungen. Allein daran kann man schon viel über das Freie Theater ablesen und auch darüber, wie es sich verändert hat. Wenn ich einmal im Jahr wissen will, was denn so passiert im deutschsprachigen Raum, dann ist Impulse der Ort dafür. Und vielleicht ist es aber auch ein Vorteil, dass man sich mal nicht in Berlin trifft, sondern in Nordrhein-Westfalen. Manche Diskussionen werden hier anders geführt. Und manche politische Diskussionen, die anderswo schnell überhitzt, kann man hier noch mit etwas mehr Ruhe führen. Und konzentrierter, weil man nicht dauernd denken muss, oh was läuft denn gerade parallel im HKW, in den sophiensaelen oder im HAU. Das ist schon ein Vorteil, auch wenn man bei diskursiverem Programm mehr um Publikum werben muss.

Was wünscht du den Impulsen für die Zukunft?

Na, erstmal hoffe ich natürlich, dass die Frage, ob es Impulse weiter gibt, erst mal vom Tisch ist. Und ich finde, dass die Idee eines kurzen Leitungsturnus dem Festival und der Freien Szene viel bringen kann. Wenn künstlerische Leitungen nicht immer gleich für zehn Jahre bleiben, dann eröffnet das auch für diejenigen, die über die Besetzung entscheiden, die Möglichkeit, mutig zu sein. Man könnte spielerisch oder konzeptuell damit umgehen und so ganz andere Sichtweisen auf die Freie Szene im deutschsprachigen Raum ermöglichen, die in ihrer Quantität begrenzt ist. Und man könnte die Frage des Kuratorischen produktiv thematisieren. Das wäre für Impulse nochmal ein weiterer unique selling point, um zum Schluss einen Begriff unserer neoliberalen Freunde zu verwenden.

Veit Sprenger, Autor und Theatermacher, ist Gründungsmitglied des Performancekollektivs Showcase Beat Le Mot. Er ist Verfasser zahlreicher dramatischer und theatertheoretischer Texte. Showcase Beat Le Mot war 2013 mit der Produktion Alles bei Impulse zu Gast.