Das öffentliche Erinnern

Florian Malzacher im Gespräch mit Frank Raddatz über Yael Bartanas "Zwei Minuten Stillstand"

In: Acting Cities. Hg. Frank Raddatz. Berlin: Alexander Verlag, 2016. 140-143.


Herr Malzacher, während des Impulse-Festivals 2013 haben Sie Zwei Minuten Stillstand von Yael Bartana eingeladen, eine Kunstaktion, um des Holocausts zu gedenken. Was hat Sie oder das Theaterfestival Impulse daran interessiert?

Florian Malzacher: Yael Bartanas Ausgangsidee ist sehr simpel: das Ritual des Jom haScho’a nach Deutschland zu übertragen und für zwei Minuten den Alltag der Stadt zu unterbrechen. Dieses Ritual aus dem Land der Opfer wird in das Land der Täter transferiert. Für Yael, die aus Israel nach Deutschland gezogen ist und hier lebt, handelt es sich um unsere gemeinsame Geschichte. Wir haben zwar offenkundig extrem unterschiedliche Positionen inne, aber wir teilen diese Erinnerung.

Vor diesem Horizont ging es uns mit Yael Bartana darum zu fragen, wie wir die Erinnerung an den Nationalsozialismus aktualisieren können. Allein dadurch, dass uns immer größere Zeiträume von dieser Ära trennen, wird das Gedenken zwangsläufig abstrakter. Man kann heute kaum noch Leute treffen, die diesen Schrecken erlebt haben oder die ihn ausgeübt haben, und in wenigen Jahren wird es keine Zeitgenossenschaft mehr geben. Beschränken wir uns also auf die Opfer des historischen deutschen Faschismus, oder müssen wir nicht auch zeigen, wo Rechtsradikalismus bis beute fortlebt, um das Gedenken in die Gegenwart zu rücken? Speziell in Köln lag es für Yael nahe, auch über den NSU zu reden und das Attentat, das in der Kolbstraße verübt wurde.

Damit stellt sich die Frage, ob eine solche Aktualisierung den Holocaust relativiert. Und: wer darüber bestimmt, wie die Opfergruppen definiert werden. Das war die Grundlage für eine – zum Teil sehr aggressiv vorgetragene – Kritik an dem Projekt. Es gab Stimmen, die behaupteten, dass sich vor allem Yaels israelkritische Haltung in dieser Aktion zeigen würde. Bei einer Diskussion wurde sie buchstäblich als „nützliche Jüdin“ bezeichnet. Obwohl das Konzept klar und sehr einfach ist, provozierte es jede Menge komplizierter Fragen und sehr erhitzte Gemüter, was dazu führte, dass man in den Ämtern sehr vorsichtig wurde und in manchen Bereichen der Verwaltung eine extreme Langsamkeit einsetzte. Statt einer Diskussion über zwei Minuten Stillstand entstand ein halbes Jahr Stillstand. Diese einsetzende Erstarrung ist durchaus aussagekräftig, denn Starre verhindert jedes Gedenken.

Es ist natürlich viel einfacher, wenn man das Gedenken auf einen Zeitraum eingrenzt, der lange hinter uns liegt.

Ich glaube, diese Haltung, diese Einschränkung der Sicht, ist mitverantwortlich dafür, dass es so lange gedauert hat, bis man überhaupt erkannt hat, dass man es in den von der NSU Gemordeten mit den Opfern rechter Gewalt zu tun hat. Bis dahin dachte man offenbar, rechte Gewalt muss auch so auftreten, wie man sie geschichtlich kennengelernt hat, und sich entsprechend ausweisen.

Nun handelt es sich bei „Impulse“ um ein Theaterfestival, also was hat das Gedenken an den Holocaust mit Theater zu tun?

Mich interessiert, was das Theater in seinem Kern ist, auch jenseits der bürgerlich-dramatischen Konventionen, die heute noch immer Allgemeingültigkeit beanspruchen. Ob textbasiert oder nicht, ob zeitgenössisch oder im geschichtlichen Rückblick, die Frage ist, was im Zentrum des theatralischen Ereignisses steht. Dabei sind das Ritual, das kollektive Zusammenkommen und das Erinnern wesentliche Aspekte: der gemeinsame Blick zurück. Wir fanden die Idee, dass man in Köln zu einer Performance zusammenkommt, bei der es keine Unterschiede zwischen Schauspielern und Zuschauern, Performern und Rezipienten gibt, sondern alle gemeinsam einen rituellen Akt begehen, sehr fruchtbar. Wir wollten im Kunstkontext die Frage nach der Form oder dem Wie des Gedenkens stellen. Im Grunde ist es bescheiden: ein Vorschlag. Weniger die Idee, ein neues Ritual zu etablieren, als zu hinterfragen, was es bedeutet, wenn wir als Gemeinschaft

zusammenkommen. Darin steckt auch die Idee des Kollektiven; Yaels Arbeiten beschäftigen sich oft mit Ritualen, vor allem Massenritualen. Das Kollektiv als Masse: Da wird auch gleich die Ambivalenz deutlich, um die es geht. Das Misstrauen gegenüber dem Kollektiv als Masse ist ja berechtigt – andererseits aber gibt es das Ideal der Gemeinschaft, in der der Einzelne sich den anderen verbunden fühlt.

Für diese Fragestellung ist der öffentliche Raum sicherlich besser geeignet als die vier Wände in einem Theater.

Vor allem auch, weil es ja ein Statement sein sollte. Am Ende waren immerhin ein paar hundert Leute vor Ort. Man positioniert sich öffentlich mit seiner körperlichen Präsenz. Im Gegensatz zum Klick im Internet macht man sich sichtbar. Für uns ging es darum, einen Beitrag zu leisten, mit Geschichte umzugehen – und eben nicht darum, das Gewesene zu vergessen oder zu relativieren. Es geht darum, Konsequenzen für heute aus der Geschichte zu ziehen.

Die Unterbrechung ist auch eine gegen die allgegenwärtige Beschleunigung gerichtete Geste.

Man kommt mit einem Festival natürlich schnell an ein Limit, weil man schnell wieder weg ist. Man ist nur temporär sichtbar. Natürlich müsste man einen kontinuierlichen Diskurs zu dieser Frage entwickeln. Denn gerade auch die kritischen Reaktionen machen die Notwendigkeit dieses Projekts deutlich. Weil es schwer einzuordnen ist, muss man anfangen selbst zu denken und steht nicht automatisch auf der richtigen Seite. Es kommt darauf an, was man daraus macht. Und wie jeder Einzelne für sich selbst argumentiert.

Dass man glaubt, mit gutem Gewissen eindeutig sagen zu können, das geht mich nichts an, ist ja nur möglich, wenn man glaubt, sich leicht distanzieren zu können. Als ich vor zwanzig Jahren für ein Jahr in Israel gejobbt habe, hab ich unter anderem einen Jugendaustausch mit Israel organisiert. Ich erinnere mich sehr gut an meinen Schock, als eine Gruppe Jugendlicher aus den neuen Bundesländern während dieses Austausches in Israel das historische Verhältnis Deutschland–Israel beiseite wischte, als ginge es sie nichts an, und sofort mit für mich frappierender Überheblichkeit auf Israel in der Rolle des Aggressors gegenüber Palästina zu sprechen kam. So hatten sie es in der DDR gelernt – und nun war es einfach eine Möglichkeit, jede ethische Verfehlung anderen zuzuschieben.

Ich habe vor Jahren mit einem populären Migranten, der die Ansicht vertrat, wir sind alle Deutsche, darüber diskutiert, ob er denn die faschistische Geschichte Deutschlands auch als eiternde Wunde erfährt. Ein Ansinnen, das er empört von sich wies.

Mit dem „steirischen herbst“ haben wir das Projekt Rebranding European Muslims der israelischen Künstlergruppe Public Movement initiiert: eine imaginäre Rebranding-Kampagne für den Islam. In diesem Kontext haben wir Gespräche mit vielen muslimischen Gruppen in Österreich geführt, u. a. mit der „Muslimischen Jugend Österreichs“. Ein junger Österreicher ägyptischer Abstammung, dessen Eltern nicht in Österreich geboren waren, er selbst aber schon, sagte uns: „Wir müssen uns der Verantwortung stellen, die wir als Österreicher für den Holocaust haben!“ Für ihn war klar, die Frage ist nicht: „War meine Familie daran beteiligt“, sondern er war in eine Gemeinschaft eingetreten, und damit übernimmt er die Verantwortung für das, was in deren Namen getan wurde. Das finde ich eine interessante Frage: Müssen Migranten, die einer neuen Gemeinschaft beitreten, auch eine solche Verantwortung mit übernehmen? Für mich war Yaels Projekt auch ein Versuch, die verschiedenen Erfahrungen von Rechtsradikalismus in einen Dialog zu bringen, um so nach einer Grundlage für gemeinsames Gedenken zu suchen.