Menschen, die Menschen zuschauen

Lotte van den Berg
von Florian Malzacher

In: herbst. Theorie zu Praxis. Graz: steirischer herbst, 2011.  116-119.


Das Theater als Metapher: Florian Malzacher zeigt die holländische Regisseurin Lotte van den Berg bei ihrer Arbeit im diffusen Niemandsland des Theaters, jenseits, aber doch nahe der Grenzen des Dramatischen.

Weit entfernt tapern Figuren in der Dämmerung übers brache Land, kommen zueinander und verlassen sich, kaum erkennbar erschlägt in der Ferne wer wen, andere haben Sex (sieht nicht einvernehmlich aus), hier und da meint man den Faden einer brutalen, aber völlig stummen Geschichte in die Hand zu bekommen, greift daneben oder hält ihn kurz, bevor er durch die Finger rutscht … Safariblick des Publikums unter bewölktem Himmel auf die natürliche Bühne eines künftigen Industriegeländes am Rande von Antwerpen: Nach und nach stürzen die Figuren in eine Grube, werden zu Erde, verschwinden im Bild. Ein leichter Herbstregen fröstelt die Zuschauer, während sie das Drama sich auflösen sehen.

Für die Freiluftinszenierung Braakland (Brachland) der jungen holländischen Regisseurin Lotte van den Berg ist die Prosa J.M. Cotzees zwar noch ein Ausgangspunkt, aber viel mehr als Motive und Atmosphäre ist vom Text nicht geblieben. Kein Wort, keine klar benennbare Geschichte. Immer wieder begibt sich van den Berg mit ihren Arbeiten in diffuses Niemandsland des Genres Theater. Schauspielerisches Agieren, Sprache, Narration reduziert sie auf ein Minimum – und schaut dabei doch in die entgegengesetzte Richtung der Generationen vor ihr, die sich vom Drama erst einmal radikal befreien mussten. Wie andere Altersgenossen vor allem aus dem holländischen und flämischen Raum kehrt sie zurück an Grenzen, die längst überschritten sind und quert sie für kurze Exkursionen. Das Misstrauen gegenüber dem Repräsentationssystem des Dramas hat sie verinnerlicht; aber dieses Misstrauen braucht keine Kampfansage mehr, keine Provokation, keine Demonstration. Es ist selbstverständlich geworden.

Mit ihrer skeptischen Sympathie für die Ränder des Dramatischen betont Lotte van den Berg – in dieser Hinsicht ähnlich ihren ehemaligen Kommilitonen der Regieklasse an der Amsterdamer Kunsthochschule Boukje Schweigman, Jetse Batelaan, Dries Verhoeven – grundlegende künstlerische Vorbehalte eher als sie zu negieren: Wie viel Narration erträgt das Theater noch? An wie viel Kausalpsychologie können wir noch glauben, wo wir doch seit über hundert Jahren lernen, dass wir nicht die Herren im eigenen Haus der Psyche sind? Und wo das Kino doch ohnehin viel besser ist im Behaupten großer Geschichten – weil es perfekter lügen kann als das Theater, das bei aller Technik immer durchschaubar bleibt. Auf die legendären Geschichtenerzähler der Achtziger und Neunzigerjahre – wie Johan Simons ZT Hollandia, Luk Perceval, die legendäre Maatschappij Discordia oder etwas später TG Stan –, die mit starken Schauspielerpersönlichkeiten das Drama mehr herausforderten als abschafften, folgt eine Generation, deren Denken weit mehr von Bild und Präsenz als vom Text geprägt ist. Und die diese Bilder dennoch – anders als die katholischen Bilderbeschwörer aus Italien in der Nachfolge von Romeo Castellucci – mit protestantischer Nüchternheit präsentieren. Es geht nicht um jenseitige Welten, sondern um das Hier und Jetzt: um den konkreten Ort, um die konkrete Situation, in die das Publikum eingeladen wird. Um die Präsenz der Schauspieler wie der Zuschauer.

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In Braakland ist der Text zum Resonanzboden geworden, auf dem Lotte van den Berg ihre Antworten darauf sucht, wie Menschen mit permanenter Gewalt als Bedrohung und Möglichkeit umgehen, wie sie Gewalt als etwas Unvermeidliches in ihr Leben integrieren. An die Stelle des Wortes rückt die Präsenz der Schauspieler – und da diese meist weit entfernt sind: die Präsenz des Ortes. „Die Schauspieler waren sehr inspiriert von den Kühen, die da einfach nur waren. Und ich zog mich mehr und mehr zurück, rückte mit meinem Stuhl in diesem riesigen Feld immer weiter in die Ferne und bekam ein ganz anderes Verhältnis zu dem, was geschah. Da war nichts von dem Exhibitionismus, den ich oft im Theater empfinde, wenn Schauspieler zeigen, was sie können. Ich hatte nie das Gefühl, dass sie das vor allem für mich machen. Je weiter weg ich ging, desto mehr existierte das Stück im Verhältnis zur Umgebung. Zu den Booten, die vorbeifuhren, zu den grasenden Kühen, zum Wind – es verhielt sich zur Welt um uns herum und war nicht selbst die Welt.“ Konkrete Handlungen, kein Als-ob, keine gespielten Gefühle. Der Abstand abstrahiert die ohnehin schon simplen, sehr direkten Geschehnisse auf dem weiten Feld noch mehr. Eine Strategie, die Lotte van den Berg auch auf die Themen, Motive und Geschichten ihrer Stücke anwendet: Wie ihre Generationsgenossin, die französische Regisseurin Gisèle Vienne, spricht sie über die ganz großen Dinge, die im zeitgenössischen, konzeptuell oder popkulturell orientierten Theater nicht unbedingt hoch im Kurs stehen: Tod, Gewalt, Religion. Doch anders als Vienne überhöht sie diese nicht ins Extrem, sondern blickt auf sie zwar anteilnehmend, aber mit großer Distanz. In die Sonne kann man nicht direkt schauen: „Es geht in meiner Arbeit auch ums Entschlacken, darum, alles rauszunehmen, zu reduzieren, bis nur noch ein  Moment bleibt, der für das Ganze steht. Es geht nicht darum, zu zeigen, was man kann, sondern darum, sich zu konzentrieren.“
Wie viel Abstand, wie viel Abstraktion, wie viel Interpretationsfreiheit aber in einer Inszenierung tatsächlich möglich sind, diese Frage durchzieht alle Arbeiten von Lotte van den Berg: „Ich lade das Publikum ein in eine Welt, die nicht direkt verstanden, die nicht einfach mit Worten benannt werden kann. Es ist eine Einladung ins Unsichere. Aber gleichzeitig muss ich den Zuschauern auch etwas geben, woran man sich festhalten kann. Gibt es diesen Halt, dann kann man ansonsten sehr abstrakt werden.“ Nicht zu viel Eindeutigkeit – aber eben auch nicht Beliebigkeit und Bodenlosigkeit. Minimale Erzählungsfragmente, an denen entlang man sich durch den Abend hangeln kann – wie in Braakland der Gang einer Frau durch Feld und Geschichte, der den eigenen Blick lenkt. Narrationsfäden, die aber nicht der Ausgangspunkt des Stückes sind, sondern Handreichungen, die erst ganz am Ende des Probenprozesses entstehen.

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Winterverblijf (Winterquartier, 2007) ist – nach unter anderem den ortsspezifischen Arbeiten Braakland“ und Het blauwe uur (Die blaue Stunde, beide 2005) sowie dem Kammerspiel Stillen (2006) – van den Bergs erstes großes Stück auf der großen Bühne des Antwerpener Toneelhuis, an das sie Guy Cassiers 2005 geholt hatte, mit dem Versprechen, dass sie auch in der Institution des Stadttheaters ihre Freiheit werde behalten und bei Bedarf mit eigenen Schauspielern oder ortsspezifisch außerhalb des Hauses arbeiten können.

Der Abend ist inspiriert von einer winterlichen Reise durch Sibirien und die Mongolei, wo die Kirchen so kalt sind, dass die Gottesdienste in den Scheunen abgehalten werden. Er handelt von der Suche nach Glauben. Und er handelt vor allem von ihrem eigenen Vater: Jozef van den Berg war ein international bekannter Theatermacher, Performer und Puppenspieler. Bevor er erfolgreich wurde, zog die Familie mit dem Zelt von Festival zu Festival, später dann spielte er auf großen Bühnen in ganz Europa, Japan, den USA. Bis er 1989 beschloss, das Theater und seine Familie für immer zu verlassen und nach Gott zu suchen. Lotte van den Berg war 15 Jahre alt, das älteste von vier Geschwistern.