„Meine wichtigste Entdeckung im Theater ist der Stillstand“

Gisèle Vienne
von Florian Malzacher

In: herbst. Theorie zur Praxis (2010): 74-81.


Ein Wald wie aus einem Bilderbuch. Oder einem romantischen Gemälde. Oder doch eher aus einem Horrormovie, einem Lynch-Film zumindest. Hyperrealistisch und dennoch von bedrohlicher Künstlichkeit. Dieser Wald ist nicht unschuldig, er ist Teil eines Plans. Oder er ist der Plan. Kein Hinweis darauf, ob er nur Zeuge ist oder ob er die Menschen dazu bringt zu tun, was sie tun – er rührt sich nicht, kein Zweig weht im Wind, kein Blatt fällt. Die Menschen, die Dinge, die Taten, sie gehen durch ihn hindurch und verändern ihn nicht. Ein mystischer Wald, aus einer anderen Zeit. Ohne Zeit.

Doch die Figuren, die in diesen Wald treten, sind merkwürdig profan: Ein Trainer im Jogginganzug, eine Gymnastiksportlerin im Kostüm, Turnübungen. Später ein Rock’n’Roll-Star. Profane Ikonen der Popkultur, Metaphern mindestens so sehr wie Personen. So wie auch der Wald selbst als Protagonist ein aufgeladenes Zeichen, ein Resonanzraum ist – von Shakespeare bis zum Blair Witch Project: Viele Wälder sehen wir in diesem Wald.

Gisèle Vienne, die junge französische Theaterregisseurin, Puppenbauerin, bildende Künstlerin, vermischt das Profane mit dem Heiligen ohne Distanz, ohne Ironie – das Stolpern beim Überwinden der Niveauunterschiede geschieht allein im Kopf der Zuschauer; für Vienne gibt es diese Unterschiede nicht – da ähnelt ihre ästhetische Technik deren Ernst Jüngers oder Heiner Müllers. Das Gute und das Böse, das Archaische und das Zeitgenössische, das Heilige und das Profane: alles lebt neben-, wenn nicht ineinander; Viennes Arbeiten sind aufklärerisch und mythisch zugleich. Stets zeigt sie, wie die Bilder erzeugt werden, die in unseren Köpfen dennoch stärker sind als jede Vernunft.

Auch der Nebel, der sich über den Wald in This is how you will disappear legt vor dem das Publikum sitzt wie die Beobachterfiguren in einem Caspar David Friedrich-Bild, wird sicht- und hörbar komponiert: Erst strömt er von unten, dann von den Seiten hinein, schließlich von oben. Bis er sich ganz ausgebreitet hat, das Bild vor unseren Augen gemalt wurde und dennoch perfekt ist. Und der echte, feuchte Nebel breitet sich aus über das Parkett; wenn er kühl unsere Haut berührt ist auch räumlich die Distanz aufgehoben, die wir in unserer Fantasie längst hinter uns gelassen haben.

Puppenspiele

Von solchen unauflöslichen Widersprüchen lebt Gisèle Viennes Arbeit. Oppositionen, vor allem aber das unübersehbare Terrain dazwischen, wo eins ins andere übergeht, nicht mehr klar trennbar ist – im Freudschen Sinne unheimlich wird: Vertraut und unvertraut zugleich. Und wie Freud das Unheimliche via E.T.A. Hoffmans „Sandmann“ mit dem Doppelgänger- und dem Puppenmotiv erläutert, so ist in Viennes Arbeiten kein Grenzgebiet präsenter als jenes zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen, zwischen dem belebten und dem unbelebten Objekt, zwischen dem Lebenden und dem Toten: Zwischen Mensch und Puppe.

Mit elf Jahren baute sie – gemeinsam mit ihrer Mutter, einer bildenden Künstlerin – ihre ersten Puppen für ein Puppentheater ohne Vorbilder, weil sie keines je gesehen hatte. Ihr Puppenbild stammte aus tschechischen und anderen osteuropäischen Animationsfilmen, aus Jim Hensons Muppet Show und später vor allem aus der Bildenden Kunst: Christian Boltanski, Hans Bellmer, Annette Messager, Pierre Molinier – und nicht zuletzt Cindy Sherman, die ihre Faszination für Puppen mit der für Verkleidungen und Gewalt verband.

Das Theater – wenn auch nicht Puppentheater – besuchte sie in ihrer Heimatstadt Grenoble als Jugendliche zwar regelmäßig und gerne, aber mit dessen Umfeld konnte sie wenig anfangen: „Vor allem hatte ich Probleme damit, wenn Schauspieler über ihre Gefühle sprachen. Bis heute, wenn ich arbeite: Ich will nicht, dass du mir erzählst, was in dir drinnen passiert, wenn du spielst. Es ist gut, dass da was passiert – aber behalte es für dich. Das ist deine Privatsphäre!“ Näher war ihr von Haus aus die Bildende Kunst, hier verortete sie auch ihr Interesse an den Puppen, die über ihr Inneres nichts preisgaben. Nach einem abgebrochenen Philosophiestudium wechselte sie auf die Ecole Supérieure Nationale des Arts de la Marionette in Charleville, wo sie von 1996 bis1999 studierte. Es war international eine der Schulen mit dem größten Anteil an Puppenbau – „und das war es schließlich, was ich später tun wollte.“