„Das ist doch eine soziale Revolution, denke ich. Leben lernen, indem man das Sterben lernt! Nicht sein müssen, um endlich sein zu können.“ Boris Nikitin sitzt ganz allein auf der leeren, großen Bühne. Das Manuskript in der Hand, jedes Wort abgelesen, Blatt für Blatt fällt auf den Boden, nur manchmal ein Blick ins Dunkel, in dem das Publikum sitzt.
Versuch über das Sterben (2019) ist ein Monolog über den Tod von Nikitins Vater und, darin verwoben, eine Reflexion über das eigene Coming-out als schwuler Mann zwanzig Jahre zuvor. Darüber, wie das offene Bekenntnis zur eigenen Sexualität, erst vor sich selbst und dann vor anderen, nicht nur zum Wendepunkt in seinem Leben, sondern auch zu einer zentralen Metapher seines Arbeitens wurde: „Das Leugnen hat auch bedeutet, nicht zu verstehen, dass die Realität anders sein könnte, als sie scheint – und dass man selbst die Macht hat, sie zu verändern.“ Dass Realität nicht fixiert ist, dass es nicht nur eine Realität gibt – und dass das aber kein Grund zu relativistischer Resignation ist, sondern im Gegenteil erst die Freiheit eröffnet, überhaupt zu handeln.
PROBEBÜHNEN
Im Sommer 2001 zog Boris Nikitin mit einundzwanzig Jahren aus seiner Geburtsstadt Basel nach Berlin, um Assistent des Autorenregisseurs René Pollesch zu werden, dessen diskursiv-spielerisches Theater zwar bereits eine eingefleischte Fangemeinde aber noch nicht den Mainstream-Appeal späterer Jahre hatte und der gerade zum künstlerischen Leiter der Nebenspielstätte Prater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz berufen worden war, die unter der Intendanz Frank Castorfs auf dem Höhepunkt ihrer Strahlkraft war – eines der einflussreichsten und meist-diskutierten Häuser weit über den deutschsprachigen Raum hinaus. Seine erste Spielzeit stellte Pollesch ganz ins Zeichen des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft (ATW), einer Keimzelle des aufstrebenden „postdramatischen Theaters“, einer experimentellen, sehr international orientierten Strömung, die den performativen Künsten nicht nur das Primat des dramatischen Textes, sondern vor allem auch ihre Liebe zur psychologisierenden Repräsentation austreiben wollte. Pollesch selbst hatte dort studiert und u. a. durch die Begegnung mit Gastprofessor*innen wie John Jesurun seinen eigenen Stil gefunden.
Passend zum WG-geprägten Low-Budget-Ambiente vieler Gießener Produktionen baute der Bühnenbildner Bert Neu-mann eine Wohnfront als Einheitsbühnenbild in den Prater (sieben Zimmer, Küche, Bad), das von unterschiedlichen Künstler*innen, alles ATW-Absolvent*innen, nach nur je vier Wochen Probenzeit bespielt wurde: Pollesch inszenierte die Prater-Trilogie, Helgard Haug und Daniel Wetzel steuerten – noch nicht unter dem Gruppennamen Rimini Protokoll – Apparat Berlin bei, She She Pop erzählten in Homestory die Geschichte sechs einsamer Frauen und eines Mannes auf der Suche nach seiner Katze …