Befreiungstheologie

Florentina Holzingers Operndebüt „Sancta“ am Mecklenburgischen Staatstheater
von Florian Malzacher

Deutscher Originaltext eines englischen Artikels in Spike Art Magazine (Juni 2024)


Im Foyer des Mecklenburgischen Staatstheaters nehmen ziemlich nonnig aussehende Nonnen unbürokratisch Beichten entgegen, stehen aber auch für Selfies zur Verfügung. Die Stimmung ist relaxed, unter das Schweriner Premieren-Abo mischen sich nicht wenige Berliner*innen, Presse, eine Handvoll internationaler Kurator*innen. Das Bizzeln eines möglichen Skandals liegt im Raum. Denn auch wenn Paul Hindemiths über hundert Jahre alte titelgebende Kurz-Oper Sancta Susana längst kein Aufreger mehr sein mag, als Steilvorlage für Florentina Holzinger – mit ihren lustvoll radikal queer-feministischen Choreografien derzeit unangefochtener shooting star der europäischen Theaterszene – taugt sie allemal. Schließlich geht es um das sexuelle Begehren einer Nonne inklusive angedeutetem Geschlechtsakt mit dem Heiland.

Und tatsächlich beginnt der Abend unter der musikalischen Leitung von Marit Strindlund mehr oder minder werktreu mit der kaum mehr als zwanzig Minuten langen, expressionistisch geprägten Oper: Klosternonne Susanna (Cornelia Zink) vor einem Altar, wie sie langsam aber sicher in sexuelle Ekstase gerät – die ganze Partitur ein einziges Crescendo – bis sie einer Glaubensschwester und deren hochgerecktem Kreuz samt Keuschheits- und Gehorsamsforderung entgegenschmettert: „Ich bin schön!“ und auch den anderen herbeigeeilten Nonnen die Beichte mit dreifachem Nein verweigert. Die schreien „Satana!“, doch Susanne steht in „unberührter Hoheit“: „So helfe mir mein Heiland gegen den euren!“

Dahinter hat längst Holzingers eigene Crew das Geschehen übernommen. Wo Hindemith, Sigmund Freuds Traumdeutung im Sinn, eine einzelne Spinne als Symbol für unterdrückte Sexualität über den Altar krabbeln lässt, klettern nun nackte Performerinnen die Rückwand hoch, küssen und lieben sich, ein Relief der offenen Lust, ein Venusberg.

Der Teufel kommt, das Kruzifix hängt über Kopf, alles ist rot, ein bisschen Nebel und ein bisschen Heavy Metal, das muss die Hölle sein. Ein Kranroboter hält mal das Ewige Licht, mal ein Kreuz, dient später als Weindusche und dreht eine Päpstin um die eigene Achse. Halbnackte Nonnen disko-rollern in der Halfpipe, „Kyrie Eleison“ singt der Chor der Schwestern. Bei Holzinger sind keine Symbole zu enträtseln – diese Feier des Direkten ist gänzlich unverschlüsselt.

Derweil kommt Jesus himself durchs Foyer gestampft, zankt sich unsanft ohne Eintrittskarte durch die Tür und kapert das Geschehen. Ein ziemlicher Dionysos ist dieser Heiland (Annina Machaz); ein zauseliger Althippie, der mit über die Schultern geworfenem Schaf und starkem Schweizer Akzent das Publikum durch launige Stand-ups motiviert: „I love bleeding for you”. Zwischen all dem Klamauk gibt es auch ein paar urchristliche Ideen, denn wenn Jesus – staatenlos und ohne Bleibe – kein Outcast ist, wer ist es dann? Der Messias revoluzzert bis er schließlich das ihm anvertraute Lamm stranguliert. Hier steht einer, auf den ihr nicht bauen könnt. Irgendwann ist auch das genug, mit kurzem Dankeschön wird die Zeit des „Jesusplaining“ endgültig für beendet erklärt. Die neue Menschin steht am Horizont.

Zum Beispiel in Person der kleinwüchsigen Schauspielerin Saioa Alvarez Ruiz, die schon in Ophelia Got Talent eine zentrale Rolle spielte. Als Päpstin von zwei halbnackten roten Kardinälinnen begleitet, nutzt sie die Risse, die sich über den Sixtinischen Kapellengott auf der Bühnenrückwand ziehen, kurzerhand als Anlass für ein komplettes Remake – schon hangeln sich gelbbehelmte Bauarbeiterinnen die Wand hoch und hämmern bis nichts mehr übrig ist vom männlichen Himmelsbild. Wir sind beim „Sanctus“ angekommen: „Erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit“. Alvarez Ruiz erzählt von ihrem eigenen Operations-Martyrium; dass sie lebt, muss ein Wunder sein oder eine Strafe. Harter Realitätseinbruch – doch schon geht’s weiter mit einer Schöpfungsabrechnung (der Heilige Geist sucht einen mehr oder weniger freiwilligen Rippen-Spender im Publikum zur Herstellung von Eva) bevor wir beim „Credo“ ankommen. Zwei Rollschulfahrerinnen knallen gegeneinander und werden in kniender Gebetshaltung eingegipst.

Befreit von Hindemith mixt Holzinger Techno, Metal und Kompositionen von Johanna Doderer, Pop und Bach, Rachmaninow und Elektronik. Ballett trifft auf Disko, Rollerskating auf Las Vegas-Cabaret, Akrobatik auf Body Art. Dabei hangeln sich Orchester, Chor, Sängerinnen und Holzinger-Performer*innen gut zweieinhalb Stunden mehr oder weniger präzise entlang der vorgeschriebenen katholischen Messe-Liturgie von „Kyrie“ bis „Sanctus“ und Abendmahl. Passend, dass die Premiere (im allerdings protestantischen Schwerin) an Fronleichnam stattfindet, dem katholischen „Hochfest des allerheiligsten Leibes und Blutes Christi“ und der Verwandlung von Brot und Wein. Für Holzinger ein klares Leitmotiv – weniger wegen des Pappmaché-Baguettes, mit dem der fröhlich grantige Heiland herumfuchtelt, als wegen des Blutes natürlich, das – auch in alkoholischem Aggregatzustand – in Strömen fließt, mal aus Flaschen, mal als Dusche, mal als echte Wunde. Das Authentizitätsproblem der Weinverwandlung verbindet Katholische Kirche, Method Acting und David Copperfield. Über das Abendmahl als sublimierter Kannibalismus ist viel spekuliert worden, doch bei Holzinger bleibt da nichts im Vagen:  Groß auf Bildschirme übertragen wird ein klitzekleines Stückchen Fleisch aus einer Performerin geschnitten, in einer Pfanne kurz frittiert und einer Schwester zum Abendmahl serviert. Eine ungläubige Jüngerin legt den Finger in die Wunde. „God, we must talk”.

Der Einsatz ist real und körperlich spürbar. Holzingers Rückgriffe sind mehr als Referenzen auf jene österreichischen (und oft ziemlich machohaften) Aktionisten, die in den 1960er Jahren amerikanische Happening-Kunst um Blut und Schmerz erweiterten. Für Holzinger dienen sie vor allem dazu, uns Zuschauer*innen das Bewusstsein für die Realität, in der wir uns gemeinsam befinden, immer wieder um die Ohren zu knallen. Diesmal (wie bereits in anderen Performances zuvor) vor allem mit einem Wink in Richtung des Aktionskünstlers Wolfgang Flatz, der sich zu Silvester 1990 in einer zerstörten Synagoge in Tiflis zwischen zwei Stahlplatten wie Glockenschlägel pendeln ließ. Aufgehängt an durchs Fleisch gebohrten Haken läuten Holzinger und Luz De Luna Duran so das „Vater unser“ ein. Schmerz, Pathos und alberne Pointe fallen zusammen. Vielleicht ist das die wahre Selbstermächtigung.

Darin ähnelt, aber unterscheidet sich Florentina Holzinger auch von einem offensichtlichen Vorgänger. Nicht nur weil Ophelia Got Talent in der Berliner Volksbühne stattfand, wo achtzehn Jahre zuvor Kunst und Gemüse Premiere feierte, schwebte die Erinnerung an Christoph Schlingensief durch den Raum: Gameshow-Dramaturgien, die eigene Präsenz auf der Bühne, (seelische) Selbstentblößungen, Menschen mit diversen Körpern und Geistern, Skandalerwartung, Peinlichkeit und Jux, vor allem aber die völlige Abwesenheit von Zynismus, das Gefühl einer Gemeinschaft beim Leben und Arbeiten zuzuschauen.

Doch Schlingensiefs Kirche fehlte natürlich nicht nur der feministische Impuls, sie blieb auch immer eine Kirche der Angst, ein Ankämpfen gegen die Furcht, gegen die eigenen Abgründe und am Ende gegen den Tod. Dem ehemaligen Ministranten steckte der Katholizismus in den Knochen, er war Teil von ihm. Holzinger hingegen dient die Kirchenkritik lediglich als Sprungbrett; die Abrechnung erfolgt eher pflichtgemäß, Papst & Co bieten vor allem ein Repertoire an Ritualen, Bildern und Kostümen. Die eigentliche Inspiration scheint mehr von Monty Python oder Peaches Christ Superstar zu kommen als vom bislang alles überdauernden Original.

Dennoch steht hinter all der folkloristischen Kirchenparodie am Ende eine Faszination, die über die Jahrhunderte in Graswurzelkirchen immer wieder aufbrach: Die Sehnsucht nach einer Ur-Community, nach frühchristlichem Nächstenliebe-Anarchismus. Und so ist all der Mummenschanz, all der Klamauk und Action vor allem Mittel zum Zweck einer Gemeinschaft, die Holzinger in ihren Arbeiten immer wieder neu begründet. Jede vermeintliche Provokation ist ein Paukenschlag zur Verkündung dieses Kollektivs. Eine Einladung. Dass es immer wieder gelingt, diesen Zusammenhalt zu erzeugen, auch in Schwerin, auch an der Oper, auch mit Opernsängerinnen, Chor, Orchester – das ist ja fast schon ein Pfingstwunder: Kurz vor Schluss, in einem Schlussbild, dass dann doch noch nicht das Ende ist, weil Holzinger uns nicht gern ein Ende finden lässt, sind alle auf der Bühne. Und nach und nach ziehen sich auch einige der Chordamen aus, die eine nur den Schleier, die andere das Oberteil, die nächste den ganzen Habit, jede wählt das Maß der Zugehörigkeit selbst. Und auch das Publikum ist eingeladen, zumindest stimmlich, und fällt ein in den Rocky Horror Picture Show-Gassenhauer: „Don’t dream it, be it!“

Sancta ist so freudvoll, zugewandt und optimistisch, weil es um die Zukunft geht. Um die Imagination einer Welt, die man will und nicht ums Abarbeiten an dem, was man nicht will. Vielleicht hängt Holzingers Erfolg auch damit zusammen, dass sie schafft, was gerade weder offizieller Politik noch Aktivismus noch Kunst oft gelingt: Eine Utopie nicht nur zu zeigen, sondern auch zu leben und  eine Wahrheit schon allein dadurch zu schaffen, dass man sie formuliert, spielt, zeigt, lebt.

Theater – und sei es in einem klassizistischen Opernhaus – ist halt immer ein Medium der Versammlung, der temporären Gemeinschaft. Eine Kunstform, in der das Werk im Augenblick der Rezeption entsteht. Im Hier im Jetzt. Wenn „Don’t dream it, be it“ der inhaltliche (oder theologische) Kernsatz Holzingers Arbeiten ist, dann fasst ein anderes Zitat die ästhetische Essenz: „We nail you to this present moment like Jesus was nailed to the cross.” Amen.