Der Name „Doppelpass“ des neuen Förderfonds der Kulturstiftung des Bundes zur Unterstützung gemeinsam entwickelter Projekte von Theaterhäusern und freien Gruppen ist vermutlich – in Fortsetzung des vormaligen Fonds „Heimspiel“ – sport-metaphorisch gemeint: Sich den Ball gegenseitig zuspielen, im selben Team sein etc. Aber nicht nur in Hessen liest man den Begriff seit Roland Kochs unsäglicher Wahlkampagne vor einigen Jahren wohl eher politisch: Als umstrittenen Kompromiss zur Einbürgerung von Immigranten, der zu kaschieren versucht, dass das Konzept der Nationalstaaten nicht mehr funktioniert, gleichzeitig aber konservativen Hardlinern dennoch schon viel zu weit geht.
Ohne die Metapher überstrapazieren zu wollen: Diese Analogie hat einiges für sich, wenn es um die Ambivalenz der „Doppelpass“-Förderung geht.
Freies Theater.
Allein der Begriff ist natürlich schon problematisch. Er soll so vieles zusammenfassen, was noch wesentlich heterogener ist, als die Stadt- und Staatstheater untereinander. Wenn ich, da ich ja nun offenkundig als Lobbyist dieser schwer definierbaren Szene eingeladen bin, dennoch versuche, ihn für den Augenblick emphatisch zu verwenden, dann sicher nicht als „frei von einem Haus“ oder „frei von Institutionen“. Schließlich arbeiten alle freien Theatermacher, die halbwegs eine Karriere haben, mit Häusern zusammen. Sie werden koproduziert, womöglich dramaturgisch begleitet, haben oft langjährige Bindungen. Nur – und da liegt eine der merkwürdigen Prämissen von der „Doppelpass“-Idee: diese Häuser sind keine Stadttheater, sondern, wie soll man das nennen, freie Häuser? Sie sind Teil der freien Theaterszene, sie bilden zusammen mit Festivals im Wesentlichen die löchrige Infrastruktur dieses Genres, oft nach Vorbild belgischer Kunstencentra entstanden – also in einem Land, in dem die freie Szene nicht ein merkwürdiges Anderes ist, sondern das Theater: Keersmaeker, Fabre, Lauwers, Platel… und natürlich die Generationen danach.
Diese Häuser – wie der Frankfurter Mousonturm, das HAU und die Sophiensaele in Berlin, Kampnagel in Hamburg, der Ringlokschuppen in Mülheim, das FFT in Düsseldorf, PACT Zollverein in Essen und wenige mehr – solche Häuser sind, zu einem kleinen Anteil, aber doch, auch in der „Doppelpass“-Förderung. Und sie machen mit dieser Förderung: Das, was sie immer machen. Oder was sie machen, wenn sie das Geld dafür haben. Sie erfüllen ihren Auftrag. Und können ihn damit ein Stückchen mehr erfüllen. Was natürlich schön ist.
Solche Kooperationen entsprechen den „Doppelpass“-Statuten, sind vermutlich sogar explizit gewünscht. Aber da sie ja business as usual mit etwas besserer Finanzierung sind, bilden sie wohl kaum den Kern des Ganzen. Im Zentrum steht der Wunsch nach Öffnung der Stadt- und Staatstheater für andere Arbeitsweisen, andere Künstler, andere Ästhetiken.
Nun sind die Türen auch der Repertoiretheater ja schon längst nicht mehr fest geschlossen. Star-Regisseure wie René Pollesch oder Stefan Pucher sind seit vielen Jahren komplett von der freien Szene in die festen Häuser gewandert. Andere, wie Rimini Protokoll, sind dort zumindest steter Gast.
Darüber hinaus gibt es diverse Kooperationen mit freien Gruppen – von der freundlichen Gastspieleinladung bis zur kompletten Produktion. Solche Begegnungen können für beide Seiten produktiv sein – oder zumindest pragmatisch sinnvoll. Wo die Ziele klar definiert sind – und sei es auch nur wegen eines gegenseitigen Imagegewinns (Schlagwort: symbolic value) oder aus finanziellen Gründen: Warum nicht.
Aber wenn wir ehrlich sind: Das Interesse bleibt auf beiden Seiten auch in den besseren Fällen letztens höchstens höflich. Die Argumentation auf der einen Seite ist: Das Stadttheater muss eine große Bandbreite abbilden. Darum inszenieren Intendanten Komödien, von denen sie sich im persönlichen Gespräch rasch distanzieren. Und darum gehört es heute zum guten Ton, freie Gruppen einzuladen. Die Argumentation auf der anderen Seite ist meist eher verdruckst: Es gibt halt bessere Bedingungen, man will mal was anderes ausprobieren, ein Stück vom Kuchen und so.
Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Das ist prima, aber: Es ist auch völlig okay, wenn sich ein Stadttheater einfach nur aus Eigennutz für die freie Szene interessiert. Die interessiert sich ja umgekehrt ausschließlich aus Eigennutz für die Stadttheater.
Es geht gerade nicht darum, die eingeübte Gut-Böse-Dialektik zu bedienen. Auch das Klein-Groß-Spiel, die Argumente mit ungerecht verteilten Budgets etc. interessieren mich eigentlich nicht wirklich. Es gibt ja nun genügend andere Bereiche, in denen weit mehr Geld steckt, als dass man eine seltsame „kommunizierende Röhren“-Budget-Logik ausgerechnet innerhalb der Theaterlandschaft entwickeln müsste. Wenn man sich anschaut, was in den meisten Fällen Schauspieler oder Dramaturgen an Stadttheatern verdienen, gibt es nicht sehr viel Grund zum Neid. Für meinen Geschmack braucht es diese Diskussion nicht. Was es braucht, ist Gleichberechtigung. Und das impliziert selbstverständlich eine bessere finanzielle Basis für die freie Szene. Aber mehr noch bedeutet es eine ernstzunehmende inhaltliche und künstlerische Auseinandersetzung mit ihr. Ein Ende des Geredes von Nachwuchs, von Reservoir etc. – von all den Bildern, die letztlich Komplimente nutzen, um zu sagen: Es ist eine Phase im Leben durch die manche gute Leute durchmüssen, bevor sie da landen, wo sie hingehören. (So wie man sich beim staatsbürgerlichen „Doppelpass“ kurz nach Erreichen der Volljährigkeit gefälligst für einen von beiden Ausweisen zu entscheiden hat.)
Diese Forderung richtet sich übrigens nicht nur an andere, sondern an die „freie Szene“ selbst. Die ist nicht automatisch der Motor theatraler Innovation. Aber künstlerisch neue Wege werden dort gefunden, wo nicht permanent versucht wird, jemanden auf den alten Weg zurück zu zwingen. Die Institutionsmaschine der großen Theaterhäuser ist da kaum zu schlagen. Doch man darf auch den Konservativismus der Avantgarde nicht unterschätzen, die Verliebtheit in das einmal selbst erreichte.
Die Freiheit, die das Neue braucht, gab es vor etlichen Jahren offensichtlich auch in einem Stadttheater in Bremen oder nochmal später in einem Theater am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz. Und solche Freiheit gibt es theoretisch bei den Gruppen des sogenannten freien Theaters. Nur: Man muss sie halt auch nutzen und ertragen wollen. Wirklich künstlerisch konsequent tun das dann nicht so sehr viele.
Andererseits aber glaube ich auch nicht, dass sich die Stadttheater (sorry auch hier für die Generalisierung) wirklich bemühen, zu verstehen, was bei den „Freien“ wirklich passiert, bzw.: wie es passiert. Warum oft nur eine Arbeit im Jahr (oder gar weniger) produziert werden kann – oder vielleicht im Gegenteil permanent etwas neues produziert werden muss. Warum die vorhandene Bühnenarchitektur (inklusive des Flexibilität simulierenden Black Cube) manchmal nicht einmal mehr für eine kritische Auseinandersetzung interessant ist. Warum man sich Institutionskritik nicht kaufen kann. Warum bestimmte Performer-Stile nicht einfach einübbar sind (so wie man halt in der einen Inszenierung fein ziselierte Psychologie spielen muss und am nächsten Abend ironische Abziehbilder. Heute Bondy, morgen Petras).
Wenn frei im Zusammenhang von Theater überhaupt etwas bedeutet, dann als vogelfrei oder als Kampfbegriff: Frei von Vorgaben, ästhetisch wie arbeitsstrukturell. Devised theatre: Dass jede Arbeit wirklich von vorn anfängt. Vielleicht braucht sie Text, vielleicht braucht sie eine frontale Bühne, vielleicht einen verdunkelten Zuschauerraum. Vielleicht braucht sie Schauspieler. Vielleicht Tänzer. Vielleicht aber auch nichts davon.
Natürlich arbeitet kein Künstler jedes Mal von Null. Aber dennoch: das ist der Anspruch. So etwas könnte „frei“ in diesem Zusammenhang meinen, wenn es einen künstlerischen Wert haben soll. „Freies Theater“ ist kein finanzieller oder struktureller Zustand (diesen status quo gilt es ja eher zu überwinden), sondern ein eigenständiges Genre. Oder, in der Logik der Stadttheater: Eine Sparte.
Von punktuellen Zusammenarbeiten profitieren die freien Theatermacher wie die Repertoiretheater. Sie sollten mehr stattfinden und dauerhaft und ernsthaft. „Doppelpass“ geht in die richtige Richtung, wo es um den Versuch geht, Kontinuität zu ermöglichen und um das Anregen von neuen Begegnungen, Öffnungen, Herausforderungen. Dennoch kann es erst einmal nur um gegenseitige Provokation gehen. Um das sich miteinander Auseinandersetzen und einander Konfrontieren. Um das Aushalten von Unterschieden. Nicht darum, sich auf jedes vermeintliche Gemeinsame zu stürzen. Ein Kompromiss kann am Ende stehen, nicht am Anfang.
Aber dafür braucht man keine doppelte Staatsbürgerschaft. Dafür braucht man höchstens ein Arbeitsvisum. Das mag als Name nicht sehr sexy sein, aber es ist nicht unpassend. Denn so offen sind die Türen der Häuser ja nun auch wieder nicht. Man muss sich zahlreichen Regeln unterwerfen, und da, wo man sie nicht befolgen kann oder will, zäh und oft erfolglos verhandeln.
So gut es ist, dass „Doppelpass“ hilft, kontinuierliche Zusammenarbeit für zwei, drei Jahre zu schaffen: Jedes Theater, jede Gruppe, die wirklich neues Terrain betreten will, wird mehr Geduld brauchen. Nach wie vor gilt in den allermeisten Fällen: Wenn freie Theatermacher im Stadttheater arbeiten, dann entstehen dort selten ihre besten Arbeiten. Warum das so ist – und welche seltenen Fälle es gibt, wo das nicht so ist – das ist genau der Punkt, an dem ein wirklich ernsthaften Gespräch beginnen müsste.
Dieses Gespräch aber wird nicht geführt, wenn beide Seiten im diplomacy mode bleiben. Und da sind sie, wenn sie – knapp bei Kasse – jede Fördermöglichkeit wahrnehmen, die sie nur kriegen können. Aus diesem Dilemma kommt auch „Doppelpass“ nicht raus. „Doppelpass“ wird deshalb so sehr beansprucht, weil Geld dahinter steht. Es ist nicht viel, aber für die freie Szene ist es verdammt viel. Und für die Stadt- und Staatstheater genug, dass man es nicht ignorieren kann. „Doppelpass“ ist auch eine self fulfilling prophecy.
Aber wenn wir in Situationen gefangen bleiben, wo das Gemeinsame so mühsam konstruiert wird und permanent gerettet werden muss, sprechen wir die eigentlichen Probleme nicht an. Die kritische Auseinandersetzung müssten fürs erste andere führen – aber auch das muss Teil von „Doppelpass“ sein. Ebenso wie eine wirklich tief gehende Reflexion im Anschluss. Eine Reflexion deren Ausgang wirklich offen ist und nicht durch künftige Förderaussichten bereits in eine bestimmte Richtung gelenkt wird.
Es braucht keine doppelten Staatsbürgerschaften für freie Gruppen und feste Häuser. (Und – by the way: Warum eigentlich mit Theatern? Die freie Szene zeichnet doch aus, dass sie Genre-Grenzen nicht leichtfertig anerkennt. Warum also nicht Kunstvereine, Biennalen, Neue-Musik-Ensembles, politische Bewegungen, Physik-Institute… Und – by the way: Warum eigentlich im deutschsprachigen Raum? Die freie Szene zeichnet doch aus, dass sie immer mehr international ist?) Doppelte Staatsbürgerschaften unterstreichen gleichzeitig das Trennende und versuchen es zu negieren.
Insofern ist es wiederum gar kein Problem, dass trotz allen Bemühens um Kontinuität, „Doppelpass“ mit vielen guten Projekten letztlich ein „Schnupperpass“ bleiben wird. Sondern es ist genau richtig. Da muss nichts zusammenwachsen. Da muss aber auch nichts in verkrampftem Antagonismus, in alberner Kampfgebärde verharren. Was es braucht, ist ein agonistisches Feld der Kunst und der Kulturpolitik. Ein Feld, auf dem verschiedene Positionen selbstbewusst gegenüber stehen.
Um solche Positionen aber zu definieren und zu bewahren, bedarf es auch der Möglichkeit der Tradierung. Freie Theaterformen existieren nicht von der Hand in den Mund, sie bauen aufeinander auf, sie brauchen ihre eigenen (metaphorischen und realen) Archive. Es wäre gut, auch hier – analog zum Tanzfonds Erbe beispielsweise – dafür zu sorgen, dass die Flüchtigkeit des Mediums keine zwangsläufige Flüchtigkeit der künstlerischen Diskurse mit sich bringt, die allein schon einen Nachteil gegenüber der Tradierungsmaschine der Repertoire-Theater zementieren. Der Ewige-Jugend-Verdacht gegenüber dem freien Theater hängt auch mit seiner vermeintlichen Geschichtslosigkeit zusammen.
Wir brauchen mehr Modelle für Künstler wie für Institutionen. Stadttheater, die wie Künstlerhäuser organisiert sind beispielsweise. „Doppelpass“ klammert ja, wie die meisten Kollaborationen zwischen freier Szene und Stadttheatern, das eigentliche Kernproblem, zumindest in den bisher akzeptierten Projekten, aus: Das Schauspielensemble. Da wird es doch interessant – weil dann oft zwei Ensembles aufeinandertreffen – schließlich sind die meisten freien Gruppen auch Ensembletheater, sogar mit meist deutlich mehr Beharrlich- und Dauerhaftigkeit. Brisant wird es da, wo neue Arten von Stadttheatern gedacht werden, nicht in der Nische, sondern mittendrin. Unperfekte Bastarde. Wir brauchen Orte der Versammlung, der temporären Gemeinschaften. Wir brauchen Theater als öffentlichen Raum. In allen Variationen und absurden Allianzen. Da müssen die Stadt- und Staatstheater einen Beitrag leisten.
Aber dafür braucht es eine tragfähige Grundlage. „Doppelpass“ ist ein prima Zwischenprojekt. Aber es ist kein Modell, das generalisiert werden kann. Die Fusion von freier Szene und Stadttheatern ist keine Utopie. Für keine Seite. Unsere Unterschiede (nicht nur zwischen „frei“ und „Institution“) sind unser Potential. Alle möglichen Verbindungen sollten gefördert werden. Aber sie sollen nicht durch Geld erzwungen werden. Die freie Szene hat Häuser. Sie hat Ausbildungsstätten. Und sie hat Festivals. Die müssen erst einmal existieren können und ihre Arbeit machen können und dadurch den freien Gruppen Strukturen und Plattformen bieten. Gerade die Initiative der Kulturstiftung des Bundes hat gezeigt, wie nachhaltig ihr Einsatz sein kann. Denn nur wenn es die Möglichkeit für freie Gruppen gibt, mit starken eigenen Institutionen zu kooperieren, dann ist die Kooperation mit den „anderen“ Häusern wirklich ein künstlerischer Wunsch und nicht nur finanzielle Notlage.